Morgengruß.

Der Zorn entflammt mich oft bei dem Gedanken,
Daß noch die Glückberaubten friedlich träumen,
Die wachen schon mit Leidgenossen zanken,
Den Feinden faul das Kampfgefilde räumen,
Im Vorgefühl der Selbsterlösung schwanken,
Die weise Vorbereitung noch versäumen;
Im Kampf um kargen Mitgenuß verschmachtet
Fast überall das arme Volk verachtet.

Mit Bruderliebe mahne mein Verlangen
Dich, Mann der Arbeit, nun vom Traum zu scheiden,
Von keiner Furcht und Eigensucht befangen,
Die Brust am Tageslichte reich zu weiden,
Für Deine Menschenrechte nie zu bangen,
Im Kraftgefühle keinen Kampf zu meiden;
Mein Morgengruß, mein Schlachtgesang begleite
Mit warmen Wünschen Dich zum großen Streite.

Für schlechten, ungewissen Lohn erwerben
Fast überall die Reichen Deine Kräfte;
Daß Deine Jugendblüthen bald ersterben,
Dem klugen Arbeitgeber blühn Geschäfte,
Bis Krankheit, Noth und Alter Dich verderben,
Gesetzlich Dir entwenden Blut und Säfte.
Mit Muth und Bildung sprenge nun die Ketten,
Das Glück bescheiden auch für Dich zu retten.

Dich reizen auch des Lebens bunte Gaben,
Die Deinen Sinnen kaum Genuß erlauben:
Fast niemals wirklich dein Verlangen laben,
Wie flüchtig nur von fern erblickte Trauben;
In schnöde Noth und Sorgen oft vergraben,
Die Zeit und Kraft für Kunstgenüsse rauben;
Weil ernster Fleiß und Wille nur gewähren,
Vom kargen Lohne dürftig Dich zu nähren.

Dir, Mann der Arbeit, sagen schlau die Pfaffen,
Daß Erdenleiden Dich zum Glauben treiben,
Den reinsten Seelenfrieden Dir verschaffen,
In Deinem Herzen unverwelklich bleiben;
Wenn Dein Verstand und Wille ganz erschlaffen,
Das Glück im Himmel will man Dir verschreiben:
Die falschen Freunde rathen Dir Ergebung,
Im Gottvertrau'n erquicke Dich Belebung.

Noch mancher Schwätzer zeigt in falschen Lehren,
Daß nur vermeintlich Leiden Dich bedrücken,
Den alle Guten gern als Bruder ehren,
Mit Gunst und Geltung unermüdlich schmücken;
Wenn Fleiß und Spaaren Deine Macht vermehren,
Mit allen Bürgerfreuden Dich beglücken;
Bis Deine Brüder Dich als Gönner suchen,
Für argen Zwang, bei kargem Lohn verfluchen.

Der Menschenfreund versucht mit milden Gaben
Das Elend muthig überall zu lindern,
Die manchen Dulder zwar erfreulich laben,
Doch Völkerleiden wichtig nie vermindern;
Daß Thoren zwar den Freiheitsdrang vergraben,
Den Kampf und Sieg der Bildung nicht verhindern:
Wofür die Weisen unermüdlich streiten,
Dich, Mann der Arbeit! überall begleiten.

Der Tag beginnt! im schönen Morgenlichte
Bereite Dich zur großen Kraftentfaltung;
Auf kein gerechtes Lebensglück verzichte,
Durch ächte Bildung reif zur Selbstverwaltung.
Beginne nun die junge Weltgeschichte,
Durch manche weise That und Neugestaltung:
Daß Dein gewisser Sieg Dich würdig preise,
Den Zeitgenossen Deine Macht beweise!

Gustav Adolf Köttgen.

Zeugenbeschreibung und Überlieferung

Drucke

Social-Demokrat. Organ der social-demokratischen Partei. 19. Dezember 1866, Nr 166

Anmerkungen zum Dokument

Das Gedicht gehört zu einer Erläuterung in: Gustav Adolph Köttgen an Karl Marx in London. Düsseldorf, Juli 1867.

 

Zitiervorschlag

Gustav Adolf Köttgen: Morgengruß [Gedicht]. In: Marx-Engels-Gesamtausgabe digital. Hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: http://megadigital.bbaw.de/briefe/detail.xql?id=M0004879. Abgerufen am 20.04.2024.