| Hannover 5. Novbr 1867.

Lieber Bürgers!

Damit Sie sich keine falschen Vorstellungen machen, Folgendes: Vor einigen Wochen besuchte mich der mir bekannte hiesige Obergerichtsanwalt Warnebold, nationalliberaler Correspondent der Weser und Magdeburger Ztg. Er hatte Marx im letzten Frühjahr bei mir kennen gelernt. Er machte mir die Perspektive Besprechungen des Marxschen Buches in ihm zugängige Blätter zu bringen, bekannte aber zugleich, was ich auch ohnedies wußte, daß ihm die Sache selbst fremd. Ich ergriff indeß den Vorschlag und bat Engels um Aushülfe. – Letzterer schickte mir den Artikel, welchen Sie von meiner Frau copirt, in Händen haben. – Zunächst gab ich ihn an Warnebold, ihn ersuchend denselben in natura zum Druck zu bringen, oder danach einen andern zu schreiben, er kümmerte sich um gar nichts u. nach längerem Warten nahm ich ihm das Manuscript wieder ab u. schickte es Ihnen. Was von Heißspornigkeit, Ungeduld etc. hierbei geleistet, kommt ausschließlich auf meine Rechnung. Ich bewundere u. verehre Marx als meinen Lehrer u. halte es für Pflicht meine geringen Kräfte mit für den Erfolg eines Werkes einzusetzen, von dem vielleicht einst eine neue Culturepoche datiren wird u. das todtzuschweigen alle Stimmführer des Augenblicks ein Interesse haben. – Meine Ungeduld Ihnen gegenüber müssen Sie daraus erklären, daß ich bei Ihnen das Verständniß für die Bedeutung von Marx voraussetzen durfte u. ohne Antwort blieb. – Haben Sie sich nun etwas Anderes zurechtgedacht, so rectificiren Sie es gefälligst vor Allem. Seien Sie versichert, daß Marx der Sache fremd ist u. daher auch von mir | nicht befragt werden kann, ob u. wie er sein Buch besprochen haben will. –

Was Sie über die Unwissenheit der Arbeiter sagen überrascht mich sehr aus Ihrem Munde zu hören. Woher sollen die Arbeiter die physisch u. geistig durch die Industrie reducirt sind, eine Einsicht gewinnen, die in vielleicht noch höherem Grade den bevorzugten Classen fehlt? Gestehen Sie doch selbst, daß „die Gelehrten“ erst das schwere Gold der Marxschen Untersuchungen in Münze umsetzen müssen, um dieselben der Bourgeoisie erst soweit zugänglich zu machen, daß diese Repräsentanten der Cultur Bildung, Sitte, Ordnung etc. erst begreifen was überhaupt unter capitalistischer Production, d. h. des was sie täglich treiben, zu verstehen ist. Betrachten Sie doch jene „gediegenen Staatsmänner“, jene National Liberalen, die alle Erfolge vernichten geholfen haben, die sie auf dem Wege zu ihrer bürgerlichen Classenherrschaft bereits errungen hatten, die es sich vor einigen Tagen erst von der officiösen Provinz-Correspondenz sagen lassen mussten, daß sie die eigentlichen Besiegten von Königgrätz seien. Wenn das Bürgerthum, dem alle Mittel der Bildung zur Verfügung stehen, so unwissend ist, daß es die einfachsten und ersten Existenzbedingungen seiner eigenen Klasse nicht kennt, wie wollen sie dem „Arbeiter“ Vorwürfe machen, der im Kampfe um das elendeste Dasein, fortwährend an die Maschine gefesselt, in der beschränktesten Wirkungssphäre selbst beschränkt geworden, ohne Zeit und Mittel sich Einsicht in das schwierige Problem seiner Lage zu verschaffen, dem ersten | besten Marktschreier zujauchst, der seinen unerträglichen Zuständen Abhülfe verspricht. –

Mit Fug und Recht verdient die Democratie den Vorwurf, nichts für das Proletariat gethan zu haben; ich meine hier für seine Aufklärung. Wenn Charlatanerien wie die von Schultze-Delitsch als die Mittel zur Befreiung der Lohnarbeit von der Herrschaft des Kapitals gepriesen werden, so begreift jeder einfache Verstand, daß das non-sense – die einzige, aber auch durchschlagende Entschuldigung für die vornehm scheinende Reserve der Bourgeoisie ist, ihre eigene kolossale Unwissenheit, sonst hätten sie den Arbeitern begreiflich machen können, daß erst die Klassenherrschaft des Bürgerthums etablirt werden muß, hauptsächlich durch die Mitwirkung des Proletariats u. daß erst dann die feindlichen Brüder an die Theilung des gemeinsamen Erbes gehen können. Unter solchen Umständen scheint es mir von epochemachender Wichtigkeit, daß ein Buch, wie das Marxsche, in die Finsterniß leuchtet. Dies Buch aller Welt zu zeigen, seine hohe Bedeutung aber u. abermals zu verkünden, das muß die Aufgabe derer sein, die es begreifen, auch die Ihrige, lieber Bürgers. – Gelingt es, direkt oder indirekt, das Verständniß der Marxschen Untersuchungen zu verallgemeinern, dann wird Klarheit auch in die politischen Kämpfe kommen, erbärmliche Pygmäen wie Braun, Faucher u. Consorten werden verschwinden wenn man ihnen im klaren Bewußtsein des Classenkampfes hic Rhodus, hic. Salta entgegenruft, u. sie | ihre Unwissenheit oder Bestechlichkeit bekennen müssen. Daß die Form des Engelsschen Artikels vielleicht für den Augenblick nicht geeignet ist, mag sein. Es liegt mir gar nichts daran, daß dieselbe so abgedruckt werde. Benutzen Sie denselben, bis Sie das Buch selbst studirt haben zur Verfassung eines andern, vielleicht auch ein Separ. Abdr. aus der „Zukunft.“ u. schicken Sie mir 50 Separat Abdrucke bitte von Ihrem Artikel. Machen Sie’s wie Sie wollen, nur bald besprechen, um das Buch zu verbreiten und die „Gelehrten“ zu zwingen Notiz davon zu nehmen. Mit der Bitte mir nochmals wenn auch nur kurz zu sagen ob Sie und wann meinen Wunsch erfüllen wollen

Herzlich grüßend
Der Ihrige
LKugelmann.

Heute Morgen, lieber Bürgers, habe ich in der Eile noch einige Punkte Ihres Briefes zu beantworten vergessen.

1, Die Schwerverständlichkeit von Marx Buch. Als ich Marx selbst auf dieses Hinderniß für die breitere Wirkung seiner Schriften, nach Erscheinen von „Zur Kritik der polit. Oeconomie“ bei Dunker aufmerksam machte (es war dies die Veranlassung und der Beginn unserer Correspondenz) antwortete er mir, daß Schriften zur Revolutionirung einer Wissenschaft zu Anfang nie eigentlich populär sein können. Und er hat Recht. Vor Allem kömmt es darauf an die Sache selbst klar zu legen. Das thut der | Verfasser in der Weise wie er selbst den Forschungs- u. Denkprozeß durchgemacht hat, wir andern müssen ihm dankbar sein, daß er für uns eine neue Welt der Erkenntniß erobert hat u. nicht nörgeln, wenn uns die Wege etwas unbequem sind. Ist Ricardo etwa populär geschrieben? Und welchen Einfluß hat er gewonnen. Ist Hegel, Kant u.s.w. populär? Nur eine auserwählte Schaar hat diese Meister des Denkens studirt, trotzalledem ist ihre Methode, sind ihre Resultate Gemeingut der Menschheit geworden. – Kennt der Telegraphist etwa wissenschaftlich exakt die Gesetze der Electricität? Aber er weiß sie zu benutzen.–

So wird es immer nur eine kleinere Zahl sein, die das Ganze wissenschaftlich erfaßt hat, die Masse muß aber hinreichend aufgeklärt werden um ihre Berechtigung zu begreifen u. die Mittel u. Wege kennen zu lernen, auch, was eben so wichtig, einzusehen, was einstweilen noch nicht erreicht werden kann, was noch geduldet werden muß.–

Die Schwierigkeit des ersten Kapitels liegt hauptsächlich im Gegenstande selbst. Bei der Geld- und Werththeorie stießen bislang alle, selbst die classischen Oeconomen auf Widersprüche, deren Lösung wir hier zum ersten Male finden. Hat man mal wirklich ein solches Werk verdaut, dann hat man auch etwas für’s Leben gewonnen.– Gründliche Kenntnisse sind in jeder Wissenschaft schwer zu erlangen.

Daß 2, Marx sich mit Widerlegung von Lasalle jetzt befassen solle, ist nicht wohl zu verlangen, wäre auch durchaus nicht wünschenswerth. | Er hat zunächst dies Werk, wovon erst der erste Band erschienen und dem noch 2 folgen sollen, zu vollenden. – Dann wünsche ich, daß er „das Verhältniß der verschiedenen Geschichtsepochen zu den verschiedenen öconomischen Substraten der Gesellschaft“ bearbeite. Das sind Sachen, die den Kopf eines Marx erfordern. Mit dem Gespenst Ferdinand Lasalle’s können kleinere Geister fertigwerden.–

3, fürchten Sie den Mißbrauch den Schweitzer & Co. und die Feudalen mit diesem Buche treiben werden.

Es giebt kein besseres Mittel dagegen, als daß deren Gegner den Marx recht gründlich studiren, damit eben das, was sie damit treiben, als Mißbrauch characterisirt werden kann. Marx schont in seinem Buche die Grundbesitzer ebensowenig, wie die Industriellen. Aller Fortschritt für die Arbeiter ist durch deren Gegensatz zum Gesetz geworden. So die Fabrikgesetze (in England) durch die Tories u. die Korngesetze durch die Whigs. – Allerdings einstweilen ohne Vortheil für’s Proletariat, aber der Umwälzungsproceß der Gesellschaft ist dadurch gefördert u. die jetzige Reformacte wird die erste Stufe zum directen Einfluß des Proletariats auf die englische Regierung sein. Damit für heute genug, lieber Freund! Sie kämpfen einstweilen für die bürgerliche Democratie, aber ich hoffe, daß Ihr Kopf sich über deren Dunstkreis erhebt u. Sie sich den allgemeinen Blick klar erhalten.–

Schreiben Sie nun zunächst einen Artikel über Marx Buch u. lassen Sie mir 50 Separat | abdrücke abziehen. Aber bitte bald. Unser alter Freund verdient es wohl, daß er sich von der Theilnahme seiner Anhänger überzeugt. Sein materieller Lohn ist ja kläglich genug. Zeigen wir ihm, daß seine Saat nicht auf unfruchtbaren Boden fällt.–

Durch eine Antwort würden Sie mich sehr erfreuen.

Nochmals freundlichen Gruß!
D. Ihrige
K.

Zeugenbeschreibung und Überlieferung

Anmerkungen zum Dokument

Der Brief gehört zu einer Erläuterung in: Louis Kugelmann an Karl Marx in London. Hannover, Mittwoch, 6. November 1867.

 

Zitiervorschlag

Louis Kugelmann an Heinrich Bürgers, 5. November 1867 [Brief]. In: Marx-Engels-Gesamtausgabe digital. Hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: http://megadigital.bbaw.de/briefe/detail.xql?id=M0005073. Abgerufen am 20.04.2024.