| Düsseldorf, 4. Nov. 67.

Lieber Freund,

Warum so ungeduldig? Glauben Sie wirklich, daß es nöthig sei, mir die Pistole auf die Brust zu setzen und la critique où la vie zu rufen, um mich zur Aufnahme einer Anzeige des Marx’schen Buches zu bewegen? Daran erkenne ich den alten Uebereifer meines alten Freundes Marx, sowie mir auch die Hand nicht unbekannt vorkommt, welche die Kritik, die Sie mir einsandten, geschrieben hat; ich glaube, dieselbe Freundin schon im Becker’schen Vorboten entdeckt zu haben. – Ihr erster Brief traf mich hier während der Wahlagitation, wo ich mich der Schweitzer-Bande zu erwehren hatte. Die Leute, denen ich gelegentlich den Standpunkt ihres Meisters Lassalle u. namentlich dessen Schülerverhältniß zu Marx klar machte, spucken mich als alten | Communisten an u. versichern mit hochgeschwungener Phrase, daß sie mit Marx und dessen Communismus nie etwas zu thun gehabt haben. Urtheilen Sie nun, ob es zweckmäßig ist, das Treiben dieser Gesellen, die sich nun einmal den Namen der Sozialdemokraten angemaßt haben, zum Ausgangspunkt zu nehmen – wie Ihre Kritik es thut – um das Marx’sche Buch unsrem Publikum zu empfehlen. Ich glaube, daß Marx sich von dem, was in Deutschland unter dem Titel „Sozialdemokratie“ herumspukt – princip- u. charakterlos wie es ist – entschieden fern halten muß, wenn er nicht mit den Helden der sozialen Phrase zusammen geworfen werden u. den nationalliberalen Oekonomen die Arbeit der Verketzerung, statt einer ehrlichen sachgemäßen Kritik, erleichtern will. Es scheint mir vielmehr, daß Marx, wie er es mit dem Proudhon’schen Sozialismus gemacht hat, so auch dem Lassalle’schen | auf den Leib gehen und dessen praktische Unfruchtbarkeit klarlegen muß. Sein Werk ist meines Erachtens zunächst als ein rein wissenschaftliches einzuführen, das von aller praktischen Agitation absieht; darum halte ich es auch nicht für gut, sogleich mit der letzten Conclusion hervorzutreten, nämlich das die ganze „kapitalische Produktionsweise“ aufgehoben werden müsse und daß sich das auf dem Wege einer sozialen Revolution zu vollziehen habe. Mein Gott, unser Publikum, das der nationalökonomischen Studie so entfremdet ist, weiß noch kaum, was es unter kapitalistischer Produktionsweise zu verstehen hat. Man lasse ihm Zeit, sich über seinen eigenen Zustand klar zu werden, die Furcht vor der Selbsterkenntnis zu überwinden, und die Autorität der Wissenschaft wird sich ihm mit innerer Nothwendigkeit aufdrängen. Was die „Arbeiter“ betrifft, so glaube ich kaum, daß sie schon | fähig sind, das Buch von Marx als „theoretische Bibel“ zu benutzen; ich habe leider aus praktischer Erfahrung von dem Bildungszustande unserer „Arbeiter“ eine sehr geringe Meinung. Sie sind, dank der Lassalleschen Agitation, noch nicht über die oberflächlichsten Phrasen von Kapital u. Arbeit, Bourgeoisie u. Proletariat hinausgekommen; ihr ganzer Katechismus reducirt sich auf ein Paar mißverstandener Glaubensartikel, die sie zum Schimpfen auf die Fortschrittspartei benutzen, als welche nichts für sie gethan habe. Meinen Sie, daß Leute wie Foersterling das Marx’sche Buch verstehen werden, dessen erstes Kapitel für das gemeine Verständnis wahrhaft abschreckend ist? Von dem Mißbrauche, den Schweitzer & Co. damit treiben werden, um den Feudalen in die Hände zu arbeiten, will ich gar nicht reden. So werden es also wieder die „Gelehrten“ sein müssen, die das schwere Gold der Marxschen Untersuchungen in Münze umzusetzen u. für den | einfachen Menschenverstand mundgerecht zu machen haben. Dieses Stadium muß durchgemacht werden u. erst dann kann wieder von einer praktischen Agitation auf neuer Grundlage – die alte taugt ganz und gar nichts – die Rede sein.

Darum, meine ich, schadet es nichts, wenn die Kritik sich Zeit nimmt, das Marxsche Werk, die Frucht 25 jähriger Arbeiten, in sich aufzunehmen u. einigermaßen zu verdauen. Ich hatte mir vorgenommen, so bald meine Zeit es zuließe, selber eine kritische Anzeige zu schreiben, wie sie mir für ein Tagesblatt geeignet erscheint – die Wahlagitation hat mich nun abermals hierhergeworfen u. ich werde vor Ende der Woche keine Ruhe finden. Ich gestehe Ihnen, meine Zeit hat mir noch nicht gestattet, das Buch durchzulesen, und ich glaube, viele Leute meines Handwerks sind in derselben Lage. Wahrscheinlich falle ich hier durch, da die | „Arbeiter“ wieder für den Regierungscandidaten stimmen werden, und dann habe ich Muße, auch wieder einmal eine wissenschaftliche Arbeit durchzustudieren.

Ich habe Ihnen die Gründe dargelegt, die mich Anstand nehmen ließen, die Kritik, die mir von Ihnen zukam, aufzunehmen. Sie mögen diese Gründe prüfen. Sind Sie gleichwohl der Meinung, daß Marx, der unser Publikum nicht mehr kennt, das unmittelbare Erscheinen der Kritik, sowie sie abgefaßt ist, einem längeren Abwarten vorziehen würde, so bin ich bereit, mich seinem Wunsche zu fügen. Dann wird mir aber gestattet sein, die Einleitung wegzulassen resp. in angemessener Weise zu modificiren.

Ihrer Antwort entgegensehend, die ich hieher Breitestraße 28 zu adressieren bitte, bin ich mit freundschaftlichem Gruß

Ihr

HBürgers

Zeugenbeschreibung und Überlieferung

Anmerkungen zum Dokument

Der Brief gehört zu einer Erläuterung in: Louis Kugelmann an Karl Marx in London. Hannover, Mittwoch, 6. November 1867.

 

Zitiervorschlag

Heinrich Bürgers an Louis Kugelmann, 4. November 1867 [Brief]. In: Marx-Engels-Gesamtausgabe digital. Hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: http://megadigital.bbaw.de/briefe/detail.xql?id=M0004974. Abgerufen am 20.04.2024.