| Radevormwald d. 16 Mai 1869
b.
Barmen, Rheinpreußen
Hochgeehrter Herr!
Wenn ich es mir mit Diesem erlaube, ein Schreiben an Sie zu richten – so bin ich gewiß, Ihre gütige Entschuldigung zu finden, indem ich Ihnen sage, daß ich einer Ihrer vielen dankbaren Schüler bin.
Im Jahr 1815 in der kaufmännischen Sphäre geboren, durch die Verhältniße zum Kaufmann und Fabricanten bestimmt – führte mich der Grund meines Characters, den ich nicht anders als Humanität bezeichnen kann – schon früh zu der Einsicht der Inconvenienzen des Systems der gegenseitigen Ausbeutung und dadurch, daß die materiellen Existenz- und Erwerbs Bedingungen auch allein alle und jede Entwicklungsbedingungen der Menschen ausmachen und somit zu der Erkenntniß, daß eine naturgemäße Oeconomie die Basis aller gesellschaftlichen Einrichtungen und deren Form also die gesellschaftliche Productionsweise sein muß.
Ordnung und Freiheit aber sind die Grundbedingung Aller Cultur und löst sich daher die practische Forderung in die Vereinigung der Consumtion mit der Production zu Einem einheitlich gegliederten Ganzen auf. – Gebrauchswerthe statt Waarenwerth herzustellen und auf dieser Basis allein Wohlstand, Bildung, Freiheit für Alle, durch Alle! die einzig mögliche Lösung der | socialen durch die Arbeiterfrage und dahin drängt Alles, was wir gewahren, wenn wir das Leben und die Entwicklung der Menschheit als einen naturhistorischen Prozeß betrachten.
Siehe [Georg Weerth:] Leben und Thaten des berühmten
Ritters Schnapphahnski <Fortsetzung>: „Ein Mensch, der
sich, wie ein Laokoon, schmerzgefoltert durch die Schlangen des
Mißgeschickes windet: er wird unsere Herzen mit sich fortreißen, und ein
großer Meister wird ihn in Marmor hauen, und ein zweiter Lessing wird
vielleicht eine unsterbliche Kritik darüber schreiben, und kunstsinnige
Könige und klassische Schulmeister werden sich daran erbauen bis an den
jüngsten Tag.“ In: NRhZtg Nr. 106, 19. September 1849. (Digitalisat).
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wie Sie in der Neuen Rh.
Ztg
sagten,
das Laokoons Ringen der Menschheit wird nicht
verstanden – die gewonnene neue
Weltanschauung bedingt jedoch auch neue Einrichtungen, solche sind aber beide
nicht eher möglich, bis die alten abgestorben sind.
Die Umwandlung unserer gesellschaftlichen Zustände an den täglichen Lebenserscheinungen nachzuweisen – diese An- und Einsichten ins Volksleben zu tragen, dazu möchte ich gerne nach meinen schwachen Kräften mithelfen.
Sie haben durch Ihre Karl Marx: Das Kapital. Bd. 1. Buch
1. Hamburg 1867. Siehe Erl. zu Marx an
J. Ph. Becker, zw. 9. u. 15.1.1866: „1200 Seiten
Manuscript“. (MEGA2 II/5).
Schließen Kritik der
politischen Oeconomie unsere sociale
Krankheit so analysirt, daß dadurch eine pathologische Darstellung derselben für
das Volk wohl möglich wird
Unsere hiesigen Bestrebungen, so wohl der Schule Schulze-Delitzsch als Lassalle wurzeln noch immer in der capitalistischen Sphäre – sie haben aber den großen Werth, die Aufmerksamkeit Aller Klassen auf den Gegenstand zu | lenken und auch in Deutschland ist der Tag nicht mehr ferne, wo sich die Forderungen nicht mehr auf Beseitigung der heutigen Träger – sondern auf die, des Systems selbst beziehen.
Es hat Alles Dies bei mir den Gedanken erweckt, nach der Art des freireligiösen Sonntagsblatts von Uhlich – ein Sonntagsblatt zu schaffen, welches unter dem Titel: die Vereinigung – die Forderung der materiell und geistig befreiten Menschen begründet, so wie deren Consequenzen darlegt.
Gleichzeitig gegen das Machwerk us. Kopfs als auch gegen das us. Hände in der als Despotismus – Hierarchie und Capital bestehenden Form, soll es sich richten, und ist es der Zweck des Gegenwärtigen, Sie anzufragen, ob Sie vielleicht in Deutschland oder America eine Persönlichkeit oder eine Corporation kennen, welche ein solches Unternehmen, unterstützen würde? Sowie ferner, ob Sie mir vielleicht einige Schriften angeben können, welche die sociale Bewegung in ihrer Totalität – philosophisch – culturhistorisch und naturnothwendig behandeln?
Sollte ich die Freude haben, einige Zeilen
| von
Ihrer geschäzten Hand zu empfangen, so hoffe ich, daß Sie Sich wieder wohl
befinden und wir Karl Marx: Das Kapital. Bd. 1. Buch
1. Hamburg 1867. Siehe Erl. zu Marx an
J. Ph. Becker, zw. 9. u. 15.1.1866: „1200 Seiten
Manuscript“. (MEGA2 II/5). Die Manuskripte für eine
Fortsetzung des „Kapital“, an denen Marx bis zum Ende seines Lebens
weiterarbeitete, wurden erst nach seinem Tod von Engels veröffentlicht.
Ausführlicher dazu siehe hier.
Schließen dem zweiten
Band
Ihres Werkes
bald entgegensehen dürfen, dem ich für unser Jahrhundert dieselbe Einwirkung
zuschreiben, welche Kants Kritik der reinen
Vernunft zu Anfang des vorigen Jahrhunderts hervorbrachte.
Wir nähern uns der Zeit, wo eine denkenden
Naturbetrachtung mit Allen Hülfsmitteln nach Allen Richtungen Platz greift und
wie Schiller
Friedrich Schiller: Die drei Alter der
Natur.
Schließen die
drei Zeitalter der
Natur beschreibt:
die Schule hat sie entseelet –
Schaffendes Leben aufs Neu
gibt die Vernunft ihr zurück. –
Genehmigen Sie die Versicherung meiner vollständigen
Hochachtung und Ergebenheit
Zeugenbeschreibung und Überlieferung
Dieser Brief wird hier erstmals veröffentlicht.
Zeugenbeschreibung
Der Brief besteht aus einem Bogen dünnem, weißem, leicht vergilbtem Papier im Format 460 × 285 mm. Gogarten hat alle vier Seiten vollständig beschrieben. Schreibmaterial: schwarze Tinte.
Archivnummerierung auf der ersten Seite oben links mit Bleistift: „175“.
Zitiervorschlag
Eduard Gogarten an Karl Marx in London. Radevormwald, Sonntag, 16. Mai 1869. In: Marx-Engels-Gesamtausgabe digital. Hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: http://megadigital.bbaw.de/briefe/detail.xql?id=M0001035. Abgerufen am 20.04.2024.