| Berlin, 8. August 1868.

Lieber Marx,

Unsere Correspondenz ist ins Stocken gerathen, meine Kreuzbandsendung vom 2. ds. (Soc. Demokrat, Kreuzzeitung, Zukunft), so wie die Exemplare der Brochüre an Generalrath, Arb. Bild. Verein etc. werden doch angekommen sein?

Der mit Guido Weiss verabredete Feldzugsplan hat eine ärgerliche Verzögerung erlitten: die Zukunft druckte in ihrer letzten Sonntagsnummer die erste Hälfte des Programms der Int. Arb. Ass. ab, welche Weiss in der „Arbeiterhalle“ gelesen hatte, um an dies Programm anzuknüpfen. Er rechnete darauf, das ganze Programm im „Vorboten“ zu finden, oder sonst durch mich zu erhalten. Unglücklicher Weise aber scheint das Programm neu zu sein. Der Vorbote enthält es nicht, ich besitze es auch nicht, und Liebknecht in seinem heutigen Wochenblatt bringt auch noch nicht den Schluß. Wenn daher heute keine 14tätige „Arbeiterhalle“ erscheinen sollte, so kann die Zukunft den zweiten Theil des Programms erst morgen über acht Tage bringen und die projectirte Polemik muß bis dahin vertagt bleiben. Dies ist um so fataler, als grade jetzt ein Mitglied der „deutschen (bourgeois) Volkspartei“, Hr. Frese, in der „Neuen Freien Presse“ sich höchst unverschämt gegen die Arbeiter ausgesprochen hat.

| In den letzten Tagen bin ich mehrfach mit Führern der hiesigen Arbeiter, denen ich Exempl. zugeschickt hatte, zusammengekommen. Nicht mit Bourgeoisführern, sondern mit Arbeitern selbst. Ich muß aber offen gestehen, ich bin etwas enttäuscht worden, insofern als ich angenommen hatte, daß unter den Arbeitern selbst mehr Einsicht & Kenntniß der Arbeiterbewegung vorhanden sei, als ich vorgefunden habe. Namentlich habe ich mich davon überzeugt, daß der Lassalle’sche Verein hier nur sehr wenig Wurzel geschlagen hat, und zwar nicht bloß der Verein selbst, sondern auch seine Lehren. Völlige Unkenntniß der Elementarbegriffe, dagegen sehr viel politisches Geschwätz. Einer z. B. bekannte sich zum rothen Republikanismus wie in Amerika; wir müßten dahin streben, dieselbe politische Freiheit zu erlangen, wie in Amerika, dann würde es sich von selbst machen, daß der Arbeiter ein menschenwürdiges Dasein führen könne, wie in Amerika. Der Mann war ganz überrascht zu hören, daß in Amerika, dem geträumten Eldorado, genau dieselben ökonomischen Verhältnisse stattfänden, wie hier, daß Strikes etc. dort ebenso an der Tagesordnung seien, wie hier. Neulich war ich in einem Bierlokal, welches vorzugsweise von Arbeitern frequentirt wird, Zeuge eines Wortgefechts zwischen den wegen der Sonntagsarbeit entlassenen und den jetzt beschäftigten Arbeitern der Ernst Kühn’schen Buchdruckerei. Letztere führten die „persönliche Freiheit“ beständig im Munde und ins Gefecht, und | unter den anwesenden Arbeitern anderer Gewerbe nahm nur ein kleiner Theil für die Strikenden Partei. Dieselbe Uneinigkeit, Mangel an Verständnis der gemeinsamen Interessen, zeigt sich bei jeder Gelegenheit, z. B. im Strike der Bäckergesellen, der daran gescheitert ist, daß von 1500–1600 in Arbeit befindlichen Bäckergesellen nur etwa der zehnte Theil, kaum dieser, die Arbeit eingestellt hat. Genug, das Terrain, um hier eine einheitliche Socialbewegung ins Leben zu rufen, ist noch gar nicht vorbereitet. Dies ist unbedingt die Folge des Umstandes, daß bis 1866 die Fortschrittspartei das alleinige bewegende Element gewesen ist & die Arbeiter mit Phrasen abgefunden hat. Ebenso hat Lassalle vollständig versäumt, die Arbeiter zu belehren, daß nicht er der Prophet einer ganz nagelneuen Lehre sei, sondern nur die Bestrebungen, die schon Jahrzehnte vor ihm dagewesen seien, fortsetze & fortzupflanzen suche. Der richtige Lassalleaner schwört auf Lassalle, wie ein Pfaffe auf Jesum Christum als den lebendigen Sohn Gottes, oder ein Muhammedaner auf Mohammet. Von Allem, was vorhergegangen ist, von der Bedeutung der Junischlacht in Paris, von der communistischen Bewegung der 40er und 50er Jahre haben selbst die Lassalleaner nur ganz verschwommene, unklare & dunkle Vorstellungen, wenn sie davon überhaupt eine Ahnung haben. Für Viele existirt nichts, was nicht in den | diversen kleinen Schriften Lassalle’s enthalten ist.

Dies entre nous. Ich theile es Ihnen mit, damit Sie orientirt sind, und schreibe Ihnen die Eindrücke, wie ich sie in der letzten Zeit erhalten habe.

In den nächsten Tagen werde ich Ihnen den von hiesigen Literaten der Socialdemokratie (Karl Hirsch, Herr Weiss oder Weise etc.) zusammengeschmiedeten „Arbeiterkalender“ zusenden. Außer der Int. Arb. Ass. wird nur noch der Buchdruckergehülfen-Verband (die erste Trades’ Union in Deutschland) und ganz kurz der Schweitzer’sche Verein in der Darstellung der Arbeiterbewegung von 1867–1868 berücksichtigt.

Ich warte immer noch auf Adressen von Vereinen & befreundeten Personen im Ausland, denen ich die Brochüre zusenden soll. Hier habe ich sie nach Kräften gratis verbreitet. Die Herstellungskosten kann die Bourgeoisie bezahlen, wenn sie Lust hat, sich ihr bevorstehendes Unglück klar zu machen. An Arbeiter verbreite ich die Schrift umsonst.

Haben Sie irgend etwas übel vermerkt, daß Sie plötzlich verstummt sind?

Man ist hier gespannt auf Ihre Antwort an Herrn von Schweitzer. Ob Annahme oder Ablehnung, event. einfache oder motivirte Ablehnung. Angenehm ist Ihnen die Sache jedenfalls nicht.

Mit freundschaftlichem Gruß

Ihr
Wm Eichhoff.

Zeugenbeschreibung und Überlieferung

Zeugenbeschreibung

Der Brief besteht aus einem Bogen mittelstarkem, weißem Papier im Format 285 × 220 mm. Eichhoff hat alle vier Seiten vollständig beschrieben. Schreibmaterial: schwarze Tinte.

Von unbekannter Hand: Nummerierung des Briefes „29“.

 

Zitiervorschlag

Wilhelm Eichhoff an Karl Marx in London. Berlin, Samstag, 8. August 1868. In: Marx-Engels-Gesamtausgabe digital. Hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: http://megadigital.bbaw.de/briefe/detail.xql?id=M0000707. Abgerufen am 19.04.2024.