| Hannover, am 17 I 68 Freitags. No 13. Am Bahnhofe.

Verehrtester Herr!

Unser bisheriger brieflicher Verkehr war ein sehr sporadischer, oft durch lange Pausen unterbrochener, dann wieder durch Strohn’s persönlichem Verkehre mit mir in Grußform vermittelter. Schuld daran trug zumeist mein Ahasverleben, das mich bald da, bald dorthin wirft, und mich zwingt, angefangene Arbeiten und korrespondenzliche Anknüpfungen plötzlich wieder jahrelang ruhen zu lassen, wenn ich selbe auch nie ganz aufgebe.

Dann führt der prädestinative Zufall wieder unversehens Annäherungen herbei. So fand ich hier – wo ich seit Juni 1867 bin – Ihr kapitales Werk über das „Capital“. Natürlich ward es mir Objekt eingehenden Studiums, in dem ich noch heute stecke, ohne noch die Hälfte des darin aufgehäuften Denkprozesses selber noch durchgemacht zu haben. Jedoch schickte ich sofort eine Notiz von ein paar Zeilen an die Elberfelder Ztg, um auf die Existenz aufmerksam zu machen.

Unterdeß kramte ich hier mal bei Fotograf Wunder in dessen „Zeitgenossen“ umher, um ihm, auf sein Ersuchen, eine kleine Collekte zusammenzustellen, welche er, versehen mit kurzen Biografien, unter kollektivem Titel in Handel bringen will. Plötzlich stoße ich da auf Ihr, auch als Fotografie, brilliantes Porträt. Eh bien, ich entwerfe die biografischen Zeilen

Karl Marx
geb. 18.. zu Trier (?)
Nationalökonomischer Schriftsteller,
Verfasser des Werks „Das Capital“ u.s.w.

| Aber ich kann in keinem Lexikon noch sonstwo Ihr Geburtsjahr finden.

Ich nahm mir daher vor, selbst bei Ihnen anzufragen. Nehmlich, so bald ich ein Nächstesmal an Sir John Bowring, Dr Berthold Seemann, Edgar Bowring oder sonst einem Freunde in England schreiben werde, nahm ich mir vor, ein Briefchen an Sie beizulegen, um das horrente Porto nach England zu ersparen, die wir durch den norddeutschen Bund nun schon verwöhnt sind, bis an die türkische Grenze blos 1 Sgr zu zahlen.

Da sagt mir aber gestern Wunder, daß Herr Dr Louis Kugelmann hier, als Ihr persönlicher Freund, auch Ihr Geburtsdatum wissen werde. Ich suchte also denn mir bisher völlig unbekannten Herrn Dr Kugelmann auf – und dank seiner Liebenswürdigkeit, schieden wir, nach ein paar Stunden überstürzenden Geplauders und Wachrufung von allerlei Bezügnissen und Erinnerungen als, in jeglicher Beziehung sehr gute und alte Bekannte. Jean Paul sagt: „es giebt Menschen, mit denen man jahrelang im engsten Verkehr lebt, ohne daß wir sie, noch sie uns kennen; dann aber wieder solche, die sich schon gegenseitig gekannt haben, bevor sie sich je begegneten, und welche, wie lang getrennt gewesene Freunde, dann nicht nur Eine Gegenwart, sondern auch eine Vergangenheit gemein haben!“

Der langen Rede kurzer Sinn mag jedoch für heute sein, daß ich rasch | die durch Dr Kugelmann gebotene Gelegenheit ergreife, da er eben eine Sendung an Sie macht, ein paar meiner lezten Broschüren für Sie beizulegen.Wie Sie sehen werden, sind selbe noch von 1866 & und 67, also damaligen Anschauungen angemessen, und besonders die Imperatoren haben seither schon andern historischen Ausgang genommen, in den Tod, und in der Freiheit Morgenroth, wie die „talketen“ Wiener jetzt singen.

Ich kann für heute nicht mehr schreiben, da ich sehr pressirt bin, und meine übrigen neueren Publikationen, besonders die Ungarn betreffenden, eben nicht zur Hand habe. Auch besitze ich noch immer nicht alle meine Schriften hier, und so fehlt mir die Schachtel, in der, mit andern Beiträgen, der amerikanische Artikel über Oberst Bangya liegt, den Sie einst durch Strohn zurückverlangen ließen. Ueber Bangya sprach ich übrigens eingehendst in Brüssel mit Oberst Lapinsky, den ich auch jenen Artikel zu lesen gab, und der mir noch merkwürdigere Aufschlüße mittheilte. Doch all das gehört jezt der Geschichte an.

Für heute also nur diese wenigen Worte des zufälligen und so erfreulichen Wiederfindens. Ich hoffe, wir kommen durch den gemeinsamen Freund nun in engeren geistigen Verkehr; und Ihr Buch wird mir Anlaß geben, für Sie auch in der Presse zu wirken.

Ich bitte Sie daher, schreiben Sie kurz – sans raisonnements, blos in den historischen | Daten – Ihre Biografie nieder, und schicken Sie mir solche, möglichst auch mit bibliografischer Angabe all Ihrer Publikationen, und mit Andeutung Ihrer politischen Aventüren von früher her. Ich schicke dann Ihr Porträt an die Leipziger Illustrirte, und schreibe dazu eine passende Biografie. Und das Buch selbst werd’ ich anderswo eingehend besprechen.

All dies für heute in aller Eile mit herzlichsten Wünschen für das neuangetretene Jahr, und in aufrichtiger Hochachtung Ihres Verehrers

KMKertbeny

Zeugenbeschreibung und Überlieferung

Dieser Brief wird hier erstmals veröffentlicht.

Zeugenbeschreibung

Der Brief besteht aus einem Bogen mittelstarkem, weißem Papier im Format 283 × 219 mm. Roter Aufdruck auf der ersten Seite oben links: „Kertbeny“. Die ersten drei Seiten hat Kertbeny vollständig beschrieben, die vierte Seite zur Hälfte. Schreibmaterial: blaue Tinte (an einigen Stellen verschmiert).

Anmerkungen zum Brief

Marx antwortet Kertbeny mit einer Notiz, beigelegt zu seinem Brief an Kugelmann vom 30. Januar 1868 (Marx an L. Kugelmann, 30.1.1868).

Der Brief wurde dem Brief Louis Kugelmanns an Marx vom 17. und 18. Januar 1868 (L. Kugelmann an Marx, 17. u. 18.1.1868) beigelegt.

Über die Beilagen („ein paar meiner lezten Broschüren für Sie beizulegen“) siehe Erl.

 

Zitiervorschlag

Karl Maria Kertbeny an Karl Marx in London. Hannover, Freitag, 17. Januar 1868. In: Marx-Engels-Gesamtausgabe digital. Hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: http://megadigital.bbaw.de/briefe/detail.xql?id=M0000527. Abgerufen am 18.04.2024.