| 10 Brunswick Gardens
Kensington
24 Nov. 1867

Lieber Marx,

Nachstehend werde ich Ihnen kurz den Inhalt der in Berlin in russischer Sprache erschienenen Broschüre von Serno-Solowiewitsch angeben. Durch sie ist es erklärlich, warum Herzen seinen „Kolokol“ jetzt auf einmal französisch fortsetzen und warum er sich französischen und belgischen radikalen Zeitungen aufdrängeln will. In Deutschland hat man ihn wohl aus Instinkt nicht recht aufkommen lassen, denn hätte man lesen und gehörig verstehen können, wie er Deutschland und die Deutschen in russischer Sprache behandelt, so hätte es vor Jahren, selbst gewissen deutschen Schwachköpfen in Genf und London nicht einfallen können, seine slavischen Beßjäden (Schwatz- und Trinkgelage) zu besuchen. –

SS. sagt:

Seitdem das jüngere Geschlecht angefangen, Herzen zu verstehen, hätte es sich mit Ekel von ihm abgewandt. Er kritisirt den „Kolokol“ von Anfang bis zu Ende und konstatirt seine Plattheit und Gemeinheit. Herzen möge auch erklären, was er mit seiner stets wiederkehrenden Redensart von der „Fäulniß“ Westeuropas meint und worin denn seine „Frische“ bestehe. – Die wirklichen Führer der scharfen Opposition seien in Rußland | Tschernischewski und Dobroljuboff gewesen, von denen dieser im Alter von 26 Jahren gestorben, jener in den sibirischen Minen auf Lebenszeit vergraben ist. Diese haben vor Jahren das russische Publikum vor Herzen gewarnt und haben ihn stets mit Ironie und Verachtung behandelt, wogegen er sie in seinem Kolokol als „Trommler, Possenreißer und Spione“ hinstellte, die nur darauf ausgingen, eine Anstellung und Orden zu erhalten. Als Herzen aber inne wurde, daß er in Rußland zur Null sank, machte er ihnen Versöhnungsanträge, die aufs Entschiedenste zurückgewiesen wurden, und jetzt, da der eine körperlich, der andere bürgerlich todt, erzählt Herzen der Welt, er und Tschernischewski hätten „sich gegenseitig ergänzt“. SS. erklärt, daß Tsch. allerdings eine „Schule“ in Rußland gegründet und viele Anhänger habe; er belacht die Ansprüche Herzens auf Gründung einer Schule und fordert ihn auf, auch nur einen einzigen Schüler zu nennen. Herzen hätte stets geklängelt, daß Tsch. und D. nur Nachbeter der Vertreter des westlichen „städtischen“ Socialismus sein, und zum Gegensatze auf seine eigene Erfindung des „Bodenszaren“ hingewiesen. S.S. zieht hierbei den elenden Brief Herzens an den Kaiser an, der eine Nachahmung des Mazzinischen an Viktor Emanuel und führt aus, daß Tsch. und D. die ganze ökonomische Frage wissenschaftlich behandelt hätten. Er frägt auch den Herzen, warum er die sehr verständig geschriebene Broschüre des Nikiphor G. über die Landangelegenheit mit | Stillschweigen übergangen. Der Schuß des Karakosoff war ein Ausdruck der Verzweiflung der zertretenen Opposition und diesen Karakosoff hätte Herzen mit Schmutz beworfen, so daß Akßakoff, der Redakteur der in Moskau erscheinenden erzrussischen, panslavistischen „Moskwa“ ihn als alten Freund begrüßte, von dem noch das Beste zu hoffen, da er in seiner Behandlung des Karakosoff offenbar Reue weine über vergangene Irrthümer. Auch ist die russische Petersburger Zeitung, indem sie die Reue des Kelsieff-Geludkoff beleuchtete, der auch Flüchtling von der Studentenbewegung her war und sich freiwillig – ganz neuerdings – der Russischen Regierung gestellt, über S.S. wegen seiner Berliner Broschüre hergefallen, aber keineswegs über Herzen. Kelsieff ist vom Kaiser begnadigt und gleichzeitig für anstellungsberechtigt erklärt worden. – Von Dolgorukoff erzählt S.S., daß dieser fürstliche Freund Herzens der schweizer Polizei davon Anzeige gemacht hat, daß einige russische Flüchtlinge – unerlaubter Weise, da sie die gesetzliche Kaution nicht geleistet, eine Druckerei zu Genf besäßen. Diese Druckerei war nemlich der privilegirten Herzenschen ein Dorn. Da Herzen sah, daß die neuesten russischen Flüchtlinge zu Genf ihn nicht „vergöttern“ wollten, erklärte er dem S.S. als Antwort auf eine Frage um Rath für die hungrigen Kerle: „Was ist das für eine Emigration“! „Ich erkenne keine Emigration an! Wir brauchen keine Emigration!“ So, sagt S.S. spricht | dieser „freiwillige“ Flüchtling, dieser Millionär, dieser „unverbesserliche Sozialist“, nachdem er die Studenten im Kolokol aufgehetzt hatte, um seinen Einfluß nicht zu verlieren. Zur Zeit des polnischen Aufstandes gab es eine Vereinigung von russischen Offizieren, die ihm eine Diversion durch einen russischen Aufstand machen wollten. Sie waren stets mit Herzen in Verbindung gewesen und von ihm aufgewiegelt worden. Als die Polen losschlugen, wandten sich die russischen Offiziere an Herzen, in dem Glauben, er handle in Übereinstimmung mit den Polen. Sie wollten wissen, wann und wie sie handeln sollten. Wochenlang ließ er sie ohne Antwort. Gedrängt endlich sagte er: „Seid vorsichtig.“ Und dabei hatte er einen Emissär nach Gallizien gesandt, der die Polen aufhetzte, Kolonnen ins Innere Rußlands zu schicken, wo sie auf den Aufstand der Russen gegen die Regierung zählen könnten. Nach der Unterdrückung des letzten polnischen Aufstands schrieb Herzen: „Wenn das katholische Polen nicht russisch sein will, so soll es in Gottes Namen gehen.“ Also was nicht katholisch, muß bleiben. Und gleichzeitig befürwortete er die russische Regierungsmaßregel, Polen – das gewaltsam entvölkerte, mit orthodoxen Bauern aus Altrußland zu kolonisiren. Nun hätte er auch natürlich keine Freunde unter den Polen außer einigen | erzreaktionären Czartoriskianern. – Auch Engelssohn und Sassonoff hatte er, nach ihrem Tode mit Schmutz beworfen.Daß er jetzt die Dezembristen 1825 (Pestel, Ryläjeff etc) „vergöttere“ sei kostenlose, ungefährliche, unnöthige Arbeit. – Die Devise: „Land (Boden) und Freiheit“ mit der er stets sein Maul füllt, sei nicht von ihm erfunden. Herzen sagt „Die Slavophilen hätten das Verständniß dieser Redensart angebahnt“. Aber Pestel und die Slavophilen, die Redaktionskommission, Wanka Kain, Graf Rostowzeff, Tschernischeffski, der Kaiser, Dolgorukoff – Alle haben diese Redensart gebraucht – und mancher von ihnen mißbraucht. – Auch war Herzen einst von Granowski angegangen worden, einiges Kapital gegen die Garantie von G. und einiger andrer Freunde vorzustrecken, zur Verbreitung volksthümlicher Broschüren in Rußland, als welche Handlung er selbst gepredigt hatte. Er wollte wohl die Verbreitung seiner Schreibereien; da jene Broschüren aber nicht unter seiner Redaktion erscheinen sollten, versagte er seinen Beistand. – Auch weist S.S. dem Herzen aus dessen eigenen Schriften nach, daß er in seinen Predigten der Vergewaltigung der Türkei durch Rußland das Wort redet.

Die Broschüre S.S. ist im März 1867 erschienen. Herzen hat geschwiegen, auch sonst Niemand geantwortet, außer etwa in Rußland erscheinende | Zeitungen, deren Beistand Herzen ohne Protest annimmt. Herzens Wirksamkeit ist endlich den Russen in scharfem Lichte vorgeführt worden, so daß er aufhört, russisch zu schreiben und sich nun französisch ausleiern wird. S.S. wird eine ausführliche Schilderung der ganzen Herzenschen Thätigkeit von Anfang bis zu Ende liefern, die ich, wenn russisch erscheinend, deutsch zu geben beabsichtige. – Es ist nun in der That geboten, wie Sie sehr richtig bemerkten, die französischen Zeitungen zu warnen und hoffe ich, daß diese flüchtige, lose Zusammenfassung der SSschen Broschüre Ihnen die Sache erleichtern wird. –

Was wissen Sie über die Türken, die hier ihren Mukhbir herausgeben?

Ich habe Ihnen meine französische Perle geschickt, werde auch die deutsche senden, deren Ausstattung besser und die sich, wie mir scheint, besser liest.

Der Ihrige
Borkheim.

Es ist Hoffnung da für die Geldangelegenheit, morgen mehr. 

Zeugenbeschreibung und Überlieferung

Dieser Brief wird hier erstmals veröffentlicht.

Absender

Zeugenbeschreibung

Der Brief besteht aus einem Bogen und einem Blatt mittelstarkem, graublauem Papier im Format 426 × 272 mm bzw. 212 × 272 mm. Borkheim hat die ersten fünf Seiten vollständig, die sechste Seite fast vollständig beschrieben. Schreibmaterial: schwarze Tinte.

 

Zitiervorschlag

Sigismund Ludwig Borkheim an Karl Marx in London. London, Sonntag, 24. November 1867. In: Marx-Engels-Gesamtausgabe digital. Hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: http://megadigital.bbaw.de/briefe/detail.xql?id=M0000440. Abgerufen am 28.03.2024.