| 65, Fenchurch Street, E.C.
London, den 30sten Mai 1867.

Lieber Engels,

Da Sie sich schon sehr lange mit russischen Angelegenheiten beschäftigt, sind Sie natürlich weniger als ich von Katkoffschen und andren ähnlichen Auslassungen überrascht, so daß die Baumwollengeschichte Ihnen viel geläufiger als mir sein müßte, der kaum je etwas darüber gelesen hatte.

Meinem Lehrer zeigte ich Ihren Vorschlag für lateinische Schreibschrift. Er konnte nur erstaunt sein über solche нѣмецкая ученность, schlug aber sofort die einfache polnische vor, woran Beispiel anbei: Jedoch die Töne sind kleineswegs genau wiedergegeben, was ich ihm als gewaltsames Polonisiren auslegte.

| Serben, Griechen und Russen machen jetzt den Bulgaren die Kur. Neustes Programm Katkoffs: Rumänien, Serbien, Bulgarien, Gräcien – unabhängig, aber föderirt Constantinopel Freistadt.

Am Morgen des 10 Mai sagt Моск. Вѣд.

„Сербскіе подданные Г.Г. Петроневичъ, Миличевичъ, Шафарикъ, Теодоровичъ и Георгіевичъ - депутаты отъ обществъ и учрежденій независимой Сербій - представлялись вице-канцлеру, Князю Горчакову. Сlова, сказанныя имъ по-французски, произвели сильное впечатлѣніе на Сербовъ.“

Diesmal sprechen die slavischen Brüder französisch untereinander, und natürlich alle diese Itsche verstehen das ganz gründlich; sie sind gar nicht so roh, wie | die schulmeistrigen Deutschen sagen. Mit meinen Noten aus Herzen fahre ich fort; leider habe ich wenig Zeit. Haxthausen haben Sie sehr richtig bezeichnet; es lohnt jedenfalls der Mühe, ihn durchzuackern.

Vor etwa 3 Wochen machte ich mit meiner Frau eine kleine Spritztour an den Rhein; Trier und Luxemburg wurde besucht. In dieser Festung waren die Offiziere, an deren einen ich empfohlen war – über das Resultat der Conferenz war noch nichts bekannt – auf den Abzug ganz vorbereitet. „Nur ehrenvoll wollten sie es thun; die Luxemburger verdienen nicht, daß man sich für sie schlägt u.s.w.“ In diesem Tone hatten sie schon lange geflüstert. Es war also leicht vorauszusagen, wie das Ding enden würde.

Mit Bucher habe ich eine spaßige Korrespondenz gehabt, die ich Ihnen gelegentlich einmal zeige. Auf seinen Rath wandte ich mich an das Ministerium des Äußeren. Das ist nun über fünf Wochen her und immer  | noch keine Antwort. Heute nun schreibt mir mein Bruder aus Berlin, daß ihm mein alter Onkel aus Glogau mitgetheilt

„Am 29sten war der hiesige Bezirksfeldwebel bei mir und fragte mich Folgendes über Sigismund: (c’est moi) wann die seligen Eltern nach Berlin gezogen, wann sie gestorben; wann und wohin Sigismund von Militär hier entlassen wurde. Theile dies dem Feldwebel mit; aber gieb umgehends Antwort. Dem Feldwebel war vom Ministerium des Äußeren und Inneren Nachricht (Auftrag?) gegeben worden, sich bei der Polizei hier zu erkundigen.“

Wahrscheinlich waren die Aufträge an das Korpskommando gerichtet, von welchem die Fragen dann durch alle Instanzen hinab bis zum „Bezirksfeldwebel“ gingen, der sich nun vor meinem Onkel wahrscheinlich in die Brust warf.

Man könnte glauben, daß die guten Leute nur zum Scherze diese Zerrereien anstellen, aber ich glaube wirklich, daß sie im Dunkel darüber sind, wo ich etwa von meinem Abgange im Mai 1848 bis zur Zeit war, als | ich im Bruchsaler Zellengefängniß Sept. 48 wieder vor Ihnen auftauchte. In Berlin herrschte solcher Wirrwarr, daß sie dort schwer einen bureaukratischen Anhaltepunkt auffischen können. Kleinlich scheint mir das ganze Vorgehen. Läge etwas Gemeines gegen mich als ihnen bekannt vor, würden sie sich wohl gar keine Mühe geben, oder höchstens zu dem Zwecke, es mir nach 20 Jahren gehörig verschämt an den Kopf zu werfen. Wozu nun das Herumfischen, als etwa zu dem Zwecke, wenn möglich, das Gemeine überhaupt herauszufinden. Zum Unglück für die Leutchen habe ich sogar als Flüchtling, nach vielen Jahren, meine Schulden abgezahlt an einige soldatische Kameraden hauptsächtlich zum Kneipen kontrahirt, das Geld dazu an meinen Hauptmann geschickt, den jetzigen General v. Bültzingslöwen, Kommandant v. Wesel, der meiner Schwester | persönlich die Quittung überbrachte, wobei er sein vergnügtes Erstaunen ausdrückte über dieses mein Verfahren. Es scheint dort an Anstandsgefühl zu fehlen, oder meine Ansichten darüber sind verschoben. Sie dürften sich ja nur die Abschrift meines Entlassungszeugnisses verschaffen – welche ich vor vielen Jahren verlangte hier von London aus. Sie wurde mir verweigert, wohl weil es nicht schlecht genug war. – Bezirksfeldwebel! Wie die Russen im ihrigen, so sind wir im Прусскiй чинъ vergraben. Nun bin ich also schon wieder gehörig bezeichnet für Glogauer Polizei und Militärbehörden. Dergleichen ist schwer zu glauben! Man muß es an sich erleben! – Es wäre vielleicht zweckmäßig, wenn ich, falls mir Besuch gestattet wird, von Verviers an gleich russisch spräche; über Berlin, bis Glogau, nach Prag zu den Riegers und Palazkis hin. Mit der Sprache wär ich am Ende | am geborgensten! –

Von Marx habe ich lange nichts gehört; ich weiß nicht einmal, ob er in London.

Nächste Woche werde ich die Revolutionsanleihe, Kinkel und die zürcher Finanzminister – sie haben noch £1376 zu verkümmeln – im Hermann beleuchten.

Nun, leben Sie wohl! Sagen Sie mir einmal bei Gelegenheit, ob es ganz recht ist, daß Sie, Marx, Schily, manche Andere in Europa u. Amerika und ich, sich nicht gemeinsam zu irgend bestimmtem Zwecke von Zeit zu Zeit in regelmäßiger, eindringlicher Form hören lassen.

Schreiben Sie bald

Ihrem
Borkheim.

| Tak dumal molodoj powesa
Letja w pyli na pocztowych
Letja w pyli na pocztowych
Wsewyshney woleju Zewesa
Naslednik wsiech swojch rodnych.
Druzia Ludmily i Ruslana!
Z gerojem mojewo Romana,
Bez predislowi, sej ze czas
Pozwolte poznakomit’ was.
Oniegin dobryj moj pryjatiel
Rodilsja na bregach Niewy
Gdie mozet byt’ rodilis’ wy,
Ili blistali, moj czytatel. –

Zeugenbeschreibung und Überlieferung

Dieser Brief wird hier erstmals veröffentlicht.

Zeugenbeschreibung

Der Brief besteht aus zwei Bogen mittelstarkem, weißem Papier im Format 260 × 204 mm und einem Blatt mittelstarkem, graublauem Papier im Format 192 × 234 mm. Wasserzeichen des Bogens: „A Cowan & Sons“. Aufdruck der Firma „Schröder & Schÿler & Co“ (siehe S. L. Borkheim an Marx, 8. Januar 1866) auf der ersten und fünften Seite. Die ersten sieben Seiten hat Borkheim vollständig, die neunte Seite zu drei Vierteln beschrieben, die achte und die zehnte Seite sind leer. Schreibmaterial: schwarze Tinte und Bleistift.

Von unbekannter Hand: auf der neunten Seite oben Nummerierung des Briefes mit Bleistift: „38“ und der Vermerk „Bei 92“.

Anmerkungen zum Brief

Borkheim beantwortet einen nicht überlieferten Brief (siehe hier) von Engels, geschrieben zwischen 11. April (siehe S. L. Borkheim an Engels, 11.4.1867 ) und den vorliegenden vom 30. Mai 1867. Engels antwortete Borkheim mit einem nicht überlieferten Brief, geschrieben aller Wahrscheinlichkeit nach zwischen 3. und 27. Juni 1867 (siehe S. L. Borkheim an Engels, 3.6.1867 und S. L. Borkheim an Engels, 29.6.1867).

 

Zitiervorschlag

Sigismund Ludwig Borkheim an Friedrich Engels in Manchester. London, Donnerstag, 30. Mai 1867. In: Marx-Engels-Gesamtausgabe digital. Hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: http://megadigital.bbaw.de/briefe/detail.xql?id=M0000273. Abgerufen am 18.04.2024.