| Hannover, 7. Dcbr. 1868
Mein hochverehrter, lieber Freund!
Siehe Marx
an L. Kugelmann, 5.12.1868.
Schließen Wenn Sie sich unter
Dietzgen einen „Arbeiter“ à la
Eccarius, Leßner etc vorstellen,
so sind Sie im Irrthume; D. ist in behaglichen kleinbürgerlichen Verhältnißen
geboren u. erzogen. – So weit ich mich seiner autobiographischen Mittheilungen,
während seines Besuches um Pfingsten d. J. erinnere ist sein Lebenslauf etwa
folgender: Der Vater hat eine Gerberei zu
Siegburg u. lebt in behaglichen Verhältnissen. Unser D. besuchte das Gymnasium
bis Quarta incl. u. erlernte sodann auch, wie ich glaube beim Vater die
Gerberei. 1853 Heirat mit Cordula Finke.
Schließen Er verheirathete sich ziemlich
früh, indeß sagten
ihm die beschränkten Zustände der Kleinstadt nicht zu u. er versuchte in den
Verein.
Staaten Amerikas sein Heil u. zwar zur Zeit des Amerikanischer Bürgerkrieg (Sezessionskrieg) 1861–1865.
Schließen Secessionskrieges.
Der Versuch mißglückte u. kostete einige Tausend Thaler. Da dies ein erheblicher
Theil seines Vermögens war, so mochte er nicht noch mehr riskiren u. kehrte zu
Weib u. Eugen Dietzgen.
Schließen Kind
nach Siegburg zurück. – Bald darauf las er in einer Zeitung das Anerbieten eines
Elsasser Gerbers eine neue, sehr vortheilhafte, Zubereitungsmethode irgend einer
Lederart, gegen Vergütung zu lehren. – D. ging hin, ließ sich darin unterweisen
u. erwarb sich derart die Zuneigung seines Lehrmeisters, daß dieser auf
Vergütung verzichtete. – Nicht viel später suchte eine Petersburger
Aktiengerberei einen technischen Dirigenten, der diese neue Methode genau kenne.
(Ich glaube sie heißt: „mit gedrehten Fässern“) D. meldete sich, man ging auf
seine Offerte ein, gegen eine vorausbedungene ansehnliche Vergütung reiste er
nach Petersburg, schloß mit der Gesellschaft ab und holte seine Familie (jetzt
Frau u. Insgesamt vier Töchter (Adelgunde,
1854–59; Margarethe, geb. 1855;
Pauline, geb. 1857; Adelgunde, 1859–1869/70) und zwei Söhne
(Eugen, 1862–1929; Peter Josef, geb. 1870).
Schließen 5 Kinder)
hinüber. –
Seine
Stellung dort war eine sehr behagliche. Er wohnte der Fabrik
gegenüber u. brauchte nur Morgens u. Nachmittags etwa ½ Stunde nachzusehen;
übrigens konnte er
| sich nach Belieben beschäftigen. Indeß schien es
unserem Freunde als wolle man ihn übervortheilen. Es war ihm nämlich ein
Gewinnantheil zugesichert, aber er konnte nie Rechnungsablage erzielen. Der
vornehme, adlige Chef-Dirigent, mit welchem D. u. Frau auch in angenehmstem
geselligem Verkehr standen hielt ihn stets hin u. that, wenn auf Abrechnung
gedrängt wurde
piquirt.
– D. sagte mir damals, er werde sich das um so weniger auf die Dauer gefallen
lassen, als er jeden Augenblick das Geschäft seines Vaters in Siegburg
übernehmen könne u. dies sei durchaus nicht unvortheilhaft, weil die
Eigenthümlichkeit seines Gewerbes die Gefahr der Concurrenz des Großkapitals
ausschließe. –
Seine philosophische u. social-polit. Richtung
verdankt er einem Juristen, Jos. Schmitz aus
Rheydt (zwischen Bonn u. Cöln, am Rhein gelegen), dem er sehr früh befreundet
wurde. – Hinreichende Muße, die er in Siegburg u. Petersburg hatte, benutzte er,
wie Ihnen bekannt. – Ein merkwürdiger Zufall ist es, daß dieser Schmitz ein
Mitglied unserer Verbindung Studentenverbindung.
Schließen (Normannia) in Bonn u. zwar
zu meiner Zeit war u. daß ich diesem die Anregung in Ihre Richtung gab. – Ich
glaube wenigstens. – Schmitz ist jetzt Director der Kölner
Hagel-Versicherungsgesellschaft in Köln u. der alten Fahne treu. – Durch
Dietzgen knüpfte ich wieder mit ihm an
u. wir wechseln jetzt von Zeit zu Zeit Briefe. – Unterm 9. v. Mts. schreibt er
mir: „Freund Dietzgen ist mit Familie aus Rußland zurückgekehrt. Er besaß schon
früher einige Tausend Thlr. Vermögen, hat jetzt noch 10,000 von einem Onkel dazu
geerbt u. erwartet noch einige Tausend als Tantième aus dem russischen
Geschäfte. Mit diesem Gelde wird er sich ein neues Haus in Siegburg bauen u.
Leder bereiten. Er kann der Zukunft sorgenfrei entgegen sehen, zumal er noch
bedeutend zu erben hat.“
D. wird etwa 40 Jahr alt sein, ist in der Größe
von Engels, von reflectirendem, ruhigem,
fast phlegmatischem Temperament.
| Er hat die Manieren eines wohlerzogenen,
gebildeten Mannes, der die Welt gesehen hat. Von revolutionärer Leidenschaft
keine Spur. – Das
Bild von J. Dietzgen ist überliefert (RGASPI, Sign. f. 654, nr.
704). Auf der Rückseite des Fotos steht die
Aufschrift von Kugelmanns Hand: „J. Dietzgen St. Petersburg. Mit Brief
v. 17/29 Juli 1868“.
Schließen Ein gutes Bild von ihm einliegend zur
Ansicht, das ich mir Siehe Marx
an L. Kugelmann,
12.12.1868.
Schließen in ihrem nächsten Briefe wohl zurückerbitten
darf. – Das ist der „Arbeiter“ Dietzgen, ein interessanter, prächtiger Mensch. Soweit ich die
Mitglieder unserer Parthei kenne, hat keiner ein so behagliches, sorgenfreies
Leben gehabt wie er. – Ich glaube, Sie können ihm getrost nach Siegburg
schreiben. Wollen Sie ganz sicher gehen, so schicken Sie den Brief an
Herrn Jos. Schmitz
Kölner
Hagel-Versicherungsgesellschaft
Unter Sachsenhausen
Köln
zur Besorgung. –
In einem sehr intelligenten Wilhelm Alexander
Freund.
Schließen Collegen, Privat-Docent in Breslau habe ich Ihnen, wie ich hoffe einen
hoffnungsvollen Schüler geworben (jüngst in Dresden). Er erzählte mir er habe
über
die Arbeiterfrage eine kleine Arbeit geschrieben, ich empfahl
das Studium Ihres Buches, bevor er seine Schrift veröffentliche. Er war durch eigenes
Nachdenken zu Malthusschen Ideen gekommen. –
W. A. Freund an L. Kugelmann, geschrieben vor dem
7. Dezember 1868. Die Beilage ist nicht überliefert. Siehe Marx
an L. Kugelmann, 12.12.1868.
Schließen Aus einliegendem Briefe, den ich mir ebenfalls recht bald
zurückerbitte, da ich denselben noch beantworten muß. – Freund ist jetzt mit einer
epochemachenden
Arbeit beschäftigt, die die Entwicklung des normalen u. pathologischen Beckens
im Speciellen u. die des Skeletts
im Аllgemeinen betrifft. Er hielt in Dresden Vortrag darüber, der Sensation
| erregte, die Herren Professoren u. Geheimräthe nahmen seine genialen
Entdeckungen mit würdevoller Vornehmthuerei entgegen, das verdroß mich. Am
Schluße unserer Sectionssitzungen nahm ich das Wort um Freunds Leistungen
rühmend hervorzuheben u. forderte die mit mir übereinstimmenden auf sich zu
erheben. Die ganze Section erhob sich – aber – man war perfide genug diese
Ovation aus dem Sitzungsprotocolle fortzulassen. Als ich die Aufnahme darin
reclamiren wollte, legte sich Freund selbst in’s Mittel u. wünschte es nicht.
Ich glaube er bereut es jetzt. Dies zum Verständniß seines Briefes. – Wenn seine
Arbeit erschienen, muß Engels dieselbe
jedenfalls oxsen. –
Nächstens noch etwas Nebensächliches über
Büchner. – Siehe Marx
an L. Kugelmann, 5.12.1868.
Schließen Für
Ihre Mittheilungen über die French branch besten Dank. – Daß Lafargue nochmals in Frankreich die
vorschriftsmäßigen Examina machen muß, wundert mich nicht.
Es ist so, wie ich meine in ganz Europa. –
Meine Frau
sendet Ihnen u. den lieben
Ihrigen herzliche Grüße, auch Fränzchen. – Wenn Sie glauben, daß
meine Frau sich für die Bestrebungen der Marie Goegg-Pouchoulin
Schließen Frau Göck, oder sonst irgend
welche interessirt, so verkennen Sie sie. –
Ist es nicht indiscret zu fragen, Siehe Engels
an Marx, 29.11.1868 und Marx
an Kugelmann, 5.12.1868.
Schließen ob das „settlement“ dessen Sie erwähnen, Sie
in Ihren bisherigen Studien u. Arbeiten hemmt? Haben Sie irgend eine andere
Thätigkeit übernommen?
Es ist Postschluß, deshalb eilig gute Nacht u. herzliche Grüße für Sie u. die l. Ihrigen von
Ihrem treuenL. Kugelmann
Dr
Zeugenbeschreibung und Überlieferung
Dieser Brief wird hier erstmals veröffentlicht.
Zeugenbeschreibung
Der Brief besteht aus einem Bogen mittelstarkem, weißem Papier im Format 280 × 220 mm. Prägung: „Dr. L. Kgm.“ Alle vier Seiten hat Kugelmann vollständig beschrieben. Schreibmaterial: schwarze Tinte.
Von unbekannter Hand: Nummerierung des Briefes bzw. der beschriebenen Seiten: „55a–d“.
Anmerkungen zum Brief
Kugelmann beantwortet Marx’ Brief vom 5. Dezember 1868 (Marx an Kugelmann, 5.12.1868).
Dem Brief wurde das Schreiben von Dr. W. A. Freund an Kugelmann, geschrieben vor dem 7. Dezember 1868, beigelegt. („Aus einliegendem Briefe, ...“). Diese Beilage ist nicht überliefert.
Eine weitere Beilage („Ein gutes Bild von ihm einliegend zur Ansicht“) ist überliefert. Siehe Erl.
Zitiervorschlag
Louis Kugelmann an Karl Marx in London. Hannover, Montag, 7. Dezember 1868. In: Marx-Engels-Gesamtausgabe digital. Hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: http://megadigital.bbaw.de/briefe/detail.xql?id=M0000861. Abgerufen am 28.03.2024.