| Sehr geehrter Herr!

Ich schreibe Ihnen unmittelbar bevor ich auf längere Zeit das Gefängniß betrete. Die Verurtheilung lautet auf 3 Monate, ich gedenke indessen nach 5–6 Wochen aus Gesundheitsrücksichten Urlaub nehmen zu können.

 Siehe Marx an J. B. von Schweitzer, 13.10.1868.
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Ihr letzter Brief
hat mich insofern sehr gefreut, als ich die Ausführlichkeit, mit der Sie mir Auskunft ertheilt haben, nur dankend anerkennen kann. Ich ge | stehe indessen, daß ich viele der wesentlichsten Äußerungen mit dem besten Willen nicht verstehen konnte. Vielleicht haben Sie  Siehe J. B. von Schweitzer an Marx, 8.10.1868. Von Schweitzer legte seinem Brief den „Social-Demokrat“ vom 4. Oktober 1868 bei, in dessen Beilage die auf dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongress in Berlin beschlossenen Statuten des Verbandes Deutscher Arbeiterschaften und Musterstatuten für die Arbeiterschaften abgedruckt waren (Social-Demokrat. Berlin. Nr. 116, 4. Oktober 1868. Beil. S. 1). Siehe Marx an Engels, 10.10.1868: „Einliegend Brief v. Schweitzer, nebst Nummer des Social Democraten ...“.
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unser Statut
doch nur in der Eile gelesen. Es muß Ihnen entgangen sein, daß das – übrigens aus drei Personen bestehende – Präsidium in den wichtigsten Fragen (Strikes etc) gar nicht mitzusprechen, sondern einfach nach den Beschlüssen des großen, aus lauter Arbeitern bestehenden Ausschusses zu verfahren hat. Es kann also nur der immer berechtigte moralische Einfluß hier geltend gemacht werden. Auch bietet z. B. unser Statut für das Kassenwesen | weit mehr Garantien, als das von Liebknecht ausgearbeitete Statut. Sie werden gewiß in manchen Punkten Ihre Ansicht modificiren, wenn Sie das freilich etwas umfangreiche Statut genauer prüfen. Ich bescheide mich indessen, unter allen Umständen Ihre bessere Sachkenntniß anzuerkennen. Auch finde ich Trost in zweien Ihrer Äußerungen: daß Jeder an bestimmte Verhältnisse gebunden ist, und daß man durch gute Praxis manche Fehler der Theorie corrigiren kann. Ich kann Ihnen die feste Versicherung geben, daß die Praxis so undictatorisch wie nur irgend möglich gehandhabt wird.

Sie hatten in Ihrem Brief | die Freundlichkeit, Ihre Vermittelung zwischen uns und Liebknecht etc. anzubieten. Allein in dieser Beziehung ist Hopfen und Malz verloren. Ich weiß aus hundertfachen Berichten, daß Liebknecht etc. fortwährend gegen die Partei des Allg. d. Arb. Vereins wühlen; sogar mit offenbaren, frechen Lügen, wie: daß ich bei der Militärvorlage für die Regierung gestimmt hätte. Der Krieg zwischen uns und diesen Herrn ist unvermeidlich geworden und er ist in der That ausgebrochen. Besser offener Krieg, als dieses verdeckte Wesen mit heimlich schleichenden Intriguen. Es ist offenbarer persönlicher Haß gegen mich | vorhanden und dieser Haß überträgt sich auf den ganzen Verein. Mit den Herrn Liebknecht & Genossen wird also allerdings jetzt Krieg geführt werden. Allein ich habe den strengsten Auftrag ertheilt, daß die Internationale nicht in den Streit hineingezogen werden werde, daß vielmehr in dieser Beziehung Frieden & Eintracht aufrecht erhalten werden sollen, wenn nicht etwa die officiellen Organe der Intern. sich gegnerisch einmischen. Selbst für diesen Fall habe ich es für wünschenswerth erklärt, daß tiefergehende Differenzen vermieden werden, bis ich wieder am Platz bin.

Was unser Verhältniß Liebknecht etc. gegenüber be | trifft, so kann ich meine Meinung sehr kurz zusammenfassen: dieses Verhältniß ist so verbittert, daß in dauerhafter Weise Ruhe und Frieden nur durch Ihre persönliche Intervention, an Ort und Stelle, oder auch an drittem Ort, aber persönlich herzustellen wären. Auf beiden Seiten ist Ihre geistige Eminenz anerkannt und ich glaube, gerade von unserer Seite ist dies mit einer Wärme und einem Nachdruck geschehen (& wird auch weiter geschehen), die eben auch nur uns möglich waren, weil der Verdacht persönlicher Vorliebe nach bekannten | Vorgängen gänzlich ausgeschlossen war. Sie könnten also wohl vermitteln, bei günstiger Gelegenheit. Aber es bedürfte dazu persönlichen Eingreifens. Es wäre sicher von höchstem Vortheil für die Entwickelung der Dinge gewesen, wenn Sie hätten in Hamburg oder ich in Brüssel erscheinen können. Leider ist es nicht hierzu gekommen. Der Krawall, der jetzt entstehen wird, hat keine übermäßige Bedeutung. Auch das vergißt sich nach einiger Zeit, vorausgesetzt freilich, daß nicht alle Schranken überschritten werden. Ich will hoffen, daß diese Voraussetzung bei der gegenseitigen Bekämpfung eintrete. So viel aber | wird nach Lage der Sache unvermeidlich sein, daß es in den nächsten Monaten zum Austrage kommen muß, ob die Mehrheit der deutschen Arbeiter & insbesondere die thatkräftigen Elemente auf Seiten des Allg. d. Arb. Vereins oder auf Seiten  Siehe Erl. zu Engels an Marx, 26.4.1868.
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der sog. „Volkspartei
stehen. Wenn Sie von Secte sprechen, so haben Sie, glaube ich, nicht genug gewürdigt, daß unter meiner Leitung der Allg. d. Arb. Verein beständig mit der europäischen Arb. Bewegung gleichen Schritt zu halten bestrebt war. Welche richtige Erkenntniß hätten wir von uns gewiesen? So habe ich z. B. in letzter Zeit fort | während  Social-Demokrat. Berlin.
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im Blatt
wie in ausführlichen Vorträgen die Bedeutung des Normalarbeitstages klargestellt. Die Auffassung der Partei hat sich so fortentwickelt, wie es sicherlich auch unter Lassalle’s Leitung geschehen wäre. Er hat sicherlich manche gewagte Experimente gemacht, er hätte sich aber ganz gewiß auch – ich wenigstens bin es überzeugt – richtig wieder herausgewunden. Er wäre auf Fortentwickelung der Auffassung bedacht gewesen. Auch ich habe manches gewagte Experimente gemacht, mehr noch, ich habe sogar manche Fehler gemacht und werde sie vielleicht auch noch in Zukunft machen; | allein im Großen und Ganzen bin ich mir bewusst, den richtigen Weg gegangen zu sein und werde ihn hoffentlich auch weiter finden. Ich bin nicht bescheiden; ich weiß meine Befähigung richtig zu schätzen – nach oben wie nach unten. Ich sage mit Bestimmheit, daß ich besser zur Führung geeignet bin wie Herr Liebknecht und daß ich die Sache besser verstehe. Ich setze hinzu, daß hinwiederum Sie sie besser verstehen wie ich. Ich bin unter solchen Umständen derjenigen Partei, die nun einmal meine Leitung will, es schuldig, mit aller Kraft auf meinem Posten aus | zuharren, bis ich mit aufrichtigem Sinn der Partei einen Führer empfehlen kann, von dem ich die Überzeugung habe, daß er die Sache besser versteht als ich. Zwei Führerschaften aber sind vom Übel.

Es hat mich gedrängt, Ihnen dies Alles noch kurz vor Thorschluß mitzutheilen. Sobald ich wieder in Freiheit bin, werde ich Sie benachrichtigen. Hoffentlich hat dieser Brief Sie überzeugt, daß es sich bei mir nicht um kleinliche Rivalitäten handelt, sondern daß ich nach so vielen feierlichen Versprechungen mich der Partei gegenüber für verpflichtet halten muß, alle Versuche, welche sich gegen | die von uns angestrebte Einheit der Partei durch ganz Deutschland richten, so viel an mir liegt niederzuschlagen. Auch bin ich auf die Länge über den Erfolg nicht in Sorgen.

Indem ich Sie bestens grüße und die Hoffnung ausspreche, daß Ihre Gesundheit sich dauernd bessern möge, zeichne ich

Mit vorzüglicher Hochachtung
JBSchweitzer

Berlin, 2. Dec. 1868.

Zeugenbeschreibung und Überlieferung

Zeugenbeschreibung

Der Brief besteht aus drei Bogen mittelstarkem, weißem Papier im Format 282 × 224 mm. Die ersten elf Seiten hat Schweitzer vollständig, die zwölfte zu drei Vierteln beschrieben. Schreibmaterial: schwarze Tinte.

Von Marx’ Hand: Vermerk „VII 2. Dec. 1868.“ mit schwarzer Tinte auf der ersten Seite oben.

Von unbekannter Hand: Nummerierung des Briefes bzw. der beschriebenen Seiten: „15a“ bis „15i“.

Anmerkungen zum Brief

Schweitzer beantwortet Marx’ Brief vom 13. Oktober 1868 (Marx an J. B. von Schweitzer, 13.10.1868).

 

Zitiervorschlag

Johann Baptist von Schweitzer an Karl Marx in London. Berlin, Mittwoch, 2. Dezember 1868. In: Marx-Engels-Gesamtausgabe digital. Hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: http://megadigital.bbaw.de/briefe/detail.xql?id=M0000855. Abgerufen am 28.03.2024.