| St. Petersburg d 12/24 Septbr 1868.
Hochverehrter Meister und Freund!
Sie werden, hoffe ich, es nicht
unfreundlich aufnehmen, wenn ich Ihnen beiliegend mittelst einer Probe von der
Die
Beilage ist nicht überliefert. Vermutlich handelt es sich um das
Manuskript von Dietzgens Schrift „Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit“, die
er 1868 verfasste und 1869 veröffentlichte. Siehe auch J.
Dietzgen an Marx, 20.5.1868.
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Mittheilung mache, welche mich seit längerer Zeit beschäftigt hat. Ich kann dem
Wunsch nicht widerstehn darüber Ihr Urtheil zu hören und bitte, wenn auch nur
mit ein paar Zeilen, mir aufrichtig zu sagen, ob nach Ihrem Dafürhalten die
Arbeit der subjektiven Arbeit werth ist, welche ich daran verwende.
Sie werden es diesen wenigen Bogen ansehen, daß ich nichts weiter will und kann, als die abstrakte, generelle Form des Denkvermögens erläutern. Die Schrift dreht sich um den Satz: Wissen, begreifen, denken heißt, an einem sinnlich gegebenen, manichfaltigen Material, das Abstrakte, Generelle od. Allgemeine gewahr werden.
Nun will es mir oft dünken, als sei diese Wahrheit schon so vielfältig erkannt, daß es nicht mehr der Mühe lohne, darüber zu schreiben. Wenn mir dann aber die Werke unser naturforschenden und philosophischen Gelehrten zu Händen kommen, finde ich darin eine so manigfache Verkennung dieser bekannten Wahrheit, daß ich daraus klar erkenne, wie überall noch und durchaus die theoretische Einsicht in ihre allgemeine Gültigkeit fehlt. Man praktizirt das Denken, wie die Bauern den Akerbau – ohne Theorie. Die Wissenschaften gerathen, wie die Kartoffel.
Anderseits stört mich wieder das Bewußtsein meines großen Mangels an Kenntnissen. Wie darfst du, sage ich mir, über die Gegenstände der Kritik der reinen Vernunft, der Wissenschaftslehre, der Logik aburtheilen, da du das, was die berühmtesten Männer | davon lehren nicht einmal gründlich studirt und verstanden hast. Darauf erwidere ich mir dann, daß der gehaltvolle Saame dieser Werke doch wohl längst Früchte getragen; daß er, wie die Vergangenheit überhaupt, dem Wesen nach in der Gegenwart enthalten sei. Und da ich nun von Kleinem an immer emsig daran gewesen bin, in allem Zugänglichen nach Aufschluß über mein Thema zu suchen, darf ich nicht zweifeln, daß, wenn nicht der Form, so doch der Sache nach, alles zu meiner Kenntniß gebracht ist, was Aristoteles, Kant, Fichte, Hegel u.s.w. über diesen Punkt gewusst haben. Ich gestehe es gern, ich habe mir nie die Zeit nehmen mögen, diese Werke gründlich zu studiren und bin vermessen genug, mir das sogar, wie die Kaufleute sagen, „gut schreiben“ zu wollen, weil ich dadurch von allen Nebensachen und besonders von allen Schuldogmen freier und für meinen Zweck offener geblieben bin. Ich dächte, ebensowohl, wie ich ein tüchtiger Gerber sein, in diesem Fach auf der Höhe meiner Zeit stehen und die Prinzipien, also die Wissenschaft desselben weiter bringen kann, ohne die Geschichte der Gerberei studirt zu haben, ebensowohl könne ich ein produktiver Philosoph sein, ohne die Geschichte der Philosophie zu kennen. Mein Objekt, das Denken, liegt ja doch dem Leben so nah, daß ich, um es kennen zu lernen, nicht nöthig habe in die dunkeln Tiefen der scholastischen Wissenschaft hinabzusteigen.
Das ungefähr wäre der Inhalt meiner Vorrede. Nun bitte dringlichst um Ihren freundlichen Rath. Soll ich fortarbeiten und die Sache veröffentlichen? Ich möchte dazu den Titel wählen: „Das menschliche Denkvermögen oder Zusammenhang zwischen Logik, Physik u. Ethik. Grundriß zu einer abermaligen Kritik der reinen und praktischen Vernunft, von einem autodidaktischen Philosophen.“
„I Die Einleitung“, enthält eine Betrachtung der spekulativen Philosophie. Ihr Zweck ist derselbe, wie der Zweck der Naturwissenschaft, oder vielmehr der Wissenschaft überhaupt: eine systematische Weltanschauung. Doch ist sie nicht charakterisirt durch ihren Zweck, sondern | durch ihre Methode: die spekulative Erkenntniß sucht die Wahrheit ohne Sinnlichkeit, rein aus dem Kopf. Ihre Auflösung besteht in der induktiven Erkenntniß, daß zum Denken, wissen, erkennen, ein sinnliches Objekt gehört. Diese einfache Thatsache, welche von der modernen Wissenschaft emsig gehandhabt, praktizirt ist, wird theoretisch noch durchaus verkannt.
Dann folgt
- II Die reine Vernunft oder das Denkvermögen im allgemeinen.
- III Vom Wesen der Dinge.
- IV Die Praxis
der Vernunft in der physischen Wissenschaft.
- a. Ursache u. Wirkung. b. Geist u. Materie. c. Kraft u. Stoff.
- V Praktische
Vernunft oder Ethik.
- a, das Weise, Vernünftige. b, das Rechte, Sittliche.
Das Ganze würde vielleicht 25 solcher geschriebenen Bogen umfassen, wie beiliegende.
Wie ergeht es Ihnen mit Ihrer
Gesundheit und der Arbeit an Ihrem Werke? Wird unsere Erwartung auf den Karl
Marx: Das Kapital. Band 2 sollte ursprünglich Buch 2 und Buch 3
enthalten. Siehe Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen
Oekonomie. Erster Band. Buch I. Vorwort (MEGA2 II/5. S. 14). Die
Manuskripte zum zweiten und dritten Buch des „Kapital“, an denen Marx
bis zum Ende seines Lebens weiterarbeitete, wurden erst nach seinem Tod
von Engels als Band 2 und Band 3 veröffentlicht. Ausführlicher dazu
siehe Exkurs zur Fortsetzung des
„Kapital“.
Schließen zweiten Band bald befriedigt werden? Wie sehr ich mich
danach sehne, können Sie gar nicht glauben. Daß man diese wissenschaftlichen
Schätze noch so wenig zu würdigen weiß, darf Sie gar nicht kränken. Die Welt war
und ist immer noch ein verstockter Pöbel, und gerade die tonangebende Welt ist
zufolge ihrer Denkart der pöbelhafteste Theil. Da ist gar kein Sinn für
Wahrheit.
Die
Wissenschaft wird viel weniger gepflegt, als die Heuchelei der
Wissenschaft. Ohne eine gründliche sociale Revolution wird die
Welt weder wahr noch sittlich. – Von Berlin aus hat man mir eine Wilhelm Eichhoff: Die
internationale Arbeiterassociation. Ihre Gründung, Organisation,
politisch-sociale Thätigkeit und Ausbreitung. Berlin 1868.
(MEGA2 I/21. S. 948–1001,
2178–2189).
Schließen Brochure „Der internationale
Arbeiterverein“, zugeschickt. Ich vermuthe auf Ihre Anregung
hin, und danke bestens. Es freut mich sehr, daß ich die Bewegung mehr und mehr
Wurzel fassen sehe. Ich lebe hier so sehr außerhalb der Civilisation,
| daß
nur selten ein Ton zu mir dringen kann. Dafür um so aufmerksamer lauscht dann
das Ohr, und um so erquiklicher ist die gute Nachricht, welche ankommt. Doch ich
bin es müde hier. In wenigen Wochen werde ich Petersburg definitiv mit meiner
Heimath verwechseln. Ich gehe von hier nach Siegburg b. Cöln a/Rh., um mich dort
als kleiner Meister zu etabliren. Dorthin erbitte ich mir dann auch Ihre
gefällige Antwort. – Schon in wenigen Tagen werde ich mit Familie von hier
aufbrechen. Ich freue mich sehr auf die heimathliche Luft. Wenn auch der Erwerb
dort kärglicher ist, man lebt doch froher. Hoffentlich werde ich von dort aus
bald einmal eine Reise nach London unternehmen können und dann das Vergnügen
haben Sie, verehrter Meister, besuchen zu dürfen und persönlich kennen zu
lernen.
Schließlich bitte ich Sie
nochmals, sich von der kalten Aufnahme Karl Marx: Das Kapital. Bd. 1. Buch 1. Hamburg 1867. Siehe
Erl. zu „1200 Seiten Manuscript“ in Marx an J.
Ph. Becker, zw. 9. u. 15.1.1866. (MEGA2 II/5).
Schließen Ihres erhabenen
Werkes
doch nur
keinen Augenblick wankend machen zu lassen. Gestatten Sie mir, Sie zum Fleiße in
der Erfüllung Ihrer Aufgabe auffordern zu dürfen: es ist Niemand da, der Ihnen
dieselbe vor- oder nachthun könnte. Und das Werk wird seine Früchte tragen.
Unwiderstehlich
ist die Macht der Wissenschaft. Schon in der kurzen Spanne Zeit, die ich
übersehe, haben Ihre Gedanken Unermessliches gewirkt. Die Wellenkreise welche
davon ausgehen, werden täglich sichtbarer, größer und ihre Wogenmacht
fürchterlicher. Und die Zeit hilft ja auch. Schon thürmen sich die Wolken und in
weiter Ferne grollen die Donner, auch hin und wieder ein Blitz. Das Wetter
kommt. Die natürlichen Gewitter sind erhaben, aber was reicht an die Erhabenheit
wenn die Weltgeschichte wettert!
Mit vielen herzlichen Grüßen
Jos. Dietzgen.Das Manuscript bitte mir zurückzulegen. Ich besitze davon Abschrift.
Zeugenbeschreibung und Überlieferung
Zeugenbeschreibung
Der Brief besteht aus einem Bogen dünnem, weißem Papier im Format 423 × 270 mm. Alle vier Seiten hat Dietzgen vollständig beschrieben. Schreibmaterial: schwarze Tinte.
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Anmerkungen zum Brief
Die Beilage („... wenn ich Ihnen beiliegend mittelst einer Probe von der Arbeit Mittheilung mache, welche mich seit längerer Zeit beschäftigt hat.“) ist nicht überliefert. Siehe Erl.
Zitiervorschlag
Joseph Dietzgen an Karl Marx in London. Sankt Petersburg, Donnerstag, 24. September 1868. In: Marx-Engels-Gesamtausgabe digital. Hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: http://megadigital.bbaw.de/briefe/detail.xql?id=M0000753. Abgerufen am 28.03.2024.