| Hannover, 26. Juni 1868
Mein hochverehrter, lieber Freund!
Die acuten Exantheme (Scharlach, Masern, Rötheln) haben folgende gemeinsame Merkmale: 1, Sie sind ansteckend, 2, haben, wenn nicht gestört, einen typischen Verlauf von 3–4 Tagen (3–4 Tage Ausbruch des Exanthems u. eben in der gleichen Zeit verschwinden desselben); (Ich habe die Blattern nicht mitgenannt, weil der Verlauf etwas langsamer ist, die Behandlung durch Ventilation bleibt aber dieselbe)
3, Ergreifen außer der Körperoberfläche auch andere Systeme.
Die Masern bilden gleichzeitig eine Eruption auf der Mucosa der Augen u. der Respirationsorgane (Röthung der Augen, Husten). –
Scharlach afficirt Nasen- u. Rachenschleimhaut bisweilen u. die Nieren. –
Auf dieser Anschauung beruht meine Behandlungsmethode: 1, Da die Krankheit ansteckend ist u. das Contagium vom Kranken selbst fortwährend producirt und in die umgebende Atmosphäre übergeführt wird, so ist für fortwährende Erneuerung der Luft im Krankenzimmer zu sorgen: permanente Ventilation. –
2, Da der Proceß als ein
Gährungsproceß des Blutes aufzufassen ist (das Contagium = Ferment), da aber
| ferner die Wärme alle Zersetzungsproceße steigert, so ist kühles Verhalten
erforderlich, wenn möglich, nicht über 15°
Réaumur = 18, 75° Celsius.
Schließen 15o R. –
3, Die ganze Körperoberfläche wird Morgens u. Abends mit Schweineschmalz oder einer Speckschwarte (ersteres angenehmer) eingerieben (Schneemann). – Geschieht dies von Anfang an, so findet gar keine Desquamation der Haut Statt u. der ganze Verlauf wird um Wochen dadurch abgekürzt. –
4, Bei ungenügendem Stuhlgange leichte Laxanzen (Inf. laxativ. – St. Germainthee u. drgl.) Bei genügender Defäcation gar keine Arznei. –
5, Bei Scharlach bedarf es keiner Verdunklung des Zimmers, wohl aber bei Masern etc wegen der Affection der Augen. –
Complication bei Scharlach: kommen bei obiger Methode kaum vor u. bedürfen gewöhnlich bei den sehr geringen Graden keiner Behandlung, da sie von selbst verschwinden.
I, Angina scarlatinosa (brandige Affection der Rachenschleimhaut). Ich glaube, daß diese ernste Complication Folge concentrirten Contagiums durch mangelhafte Ventilation ist. Mir ist sie nicht ausgebildet vorgekommen. Event. erfordert sie aufmerksamste Behandlung. Ein oder 2 Mal bemerkte ich kleine gelbe Flecken am Gaumensegel (Arcus palatinus) u. gab mit raschem Erfolge
Zeichen
für ein ärztliches Rezept.
– destill. ℥i(?)
Syrupus sacchari. |
} |
Misce, da, signa (m. d. s.), was so viel wie „Mische [die
einzelnen Wirkstoffe mit einander], gib [das entstandene
Gemisch an den Patienten] ab und bezeichne [das so
hergestellte Medikament]“. (NB. Bei kleinen Kindern schwächere Lösung) |
Die Arznei (Chlorwasser) dient
zur Desinfection des
| gangränescirenden Gewebens an rechter
Stelle.
Schließen in loco u. im Magen. – Die üblen Folgen entstehen, wenn
nicht sehr tiefe Substanzverluste vorhanden, durch Vaguslähmung in Folge von
Resorption brandigen Zellengewebes in loco affectionis oder von Magen aus. Daher
der Nutzen des häufig diese Parthien bespülenden
Chlorwassers
II Nierenaffection (Albuminurie) u. Hautwassersucht, durch unterdrückte Hautthätigkeit (zu starke Desquamation der Haut, Erkältung, bei Kindern meist durch zu frühes Niedersetzen an kühlen Orten: auf Steine, Rasen etc) Heilt meist rasch durch Tart. stib.
℞ Tartari stibiati gr. ii Solve
Aqua
florum aurantii.
Syrupus
Althaeae. bei Kindern weniger. |
} |
Mds. 2strc 1 Eßlöffel voll (für Erwachsene) |
Dabei warmes Verhalten, um die Hautthätigkeit anzuregen; aber fortwährend Ventilation u. Fetteinreibung.
Die Ventilation wird am besten im Nebenzimmer hergestellt. Ein Fensterflügel geöffnet u. die Thür etwa 1 Fuß breit. Damit die Thür beim Aus- und Eingehen nicht aus Gewohnheit geschlossen wird, stellt man eine Fußbank dazwischen. Die Thür zum Krankenzimmer weit geöffnet. Die Kranken darf kein Luftzug treffen, event. Bettschirm. –
Diät: Sobald der Puls zur Norm zurückgekehrt ist mäßige, leicht verdauliche, aber nahrhafte Speisen. – | Gewöhnlich ist das Fieber am 4. Tage vorbei. –
Bei normalem Verlaufe kann man nach 10 Tagen schon einen Spaziergang an trockenen Orten, bei warmer Luft erlauben. Doch lasse ich zuvor die ganze Körperoberfläche mit kaltem Wasser abwaschen um gegen Temperaturwechsel abzuhärten. Diese kalten Waschungen lasse ich morgens 1 mal einige Wochen lang fortsetzen u. dabei auf leichte Leibesöffnung achten. Waschungen des Gesichts u. der Hände sind während der ganzen Krankheit, mit stubenwarmem Wasser, erlaubt.
Bei dieser naturgemäßen Behandlungsmethode halte ich Scharlach u. Masern für leichte Affectionen. –
Es wird mich freuen bald zu
hören wie es Marx’ Töchter Jenny und Eleanor.
Schließen Ihren lieben Mädchen geht. – Wie geht es Ihnen selbst? Wie weit sind Sie mit Karl Marx: Das Kapital. Band 2 sollte ursprünglich
Buch 2 und Buch 3 enthalten. Siehe Karl Marx: Das Kapital. Kritik der
politischen Oekonomie. Erster Band. Buch I. Vorwort (MEGA2 II/5. S. 14). Die
Manuskripte zum zweiten und dritten Buch des „Kapital, an denen Marx bis
zum Ende seines Lebens weiterarbeitete, wurden erst nach seinem Tod von
Engels als Band 2 und Band 3 veröffentlicht. Ausführlicher dazu siehe
Exkurs zur Fortsetzung des
„Kapital“.
Schließen Ihrem
Buche? Sehen wir Sie bald? Engels besuchte seine Mutter
in Ostende Anfang September 1868. Siehe Marx
an L. Kugelmann, 2.7.1868, Engels
an Marx, 1.9.1868 und Elisabeth
Engels an Engels, 2.9.1868. Kugelmanns in
Hannover besuchte er nicht.
Schließen Kömmt Engels diesen
Sommer?
Siehe auch
Engels
an Marx, 1.9.1868 und
Elisabeth Engels an Engels,
2.9.1868. Marx
an Engels, 29.6.1868 und Joseph
Dietzgen an Marx, 3.7.1868. Der
Pfingstsonntag fiel 1868 auf den 31. Mai.
Schließen Pfingsten besuchte mich Dietzgen, ein netter Mann.
Nächstens mehr über ihn. –
Die erste Frau von Wilhelm Liebknecht
Ernestine (geb. Landolt) war am 29.
Mai 1867 gestorben. Siehe W.
Liebknecht an Marx, 29.5.1867. Natalie Reh heiratete Wilhelm Liebknecht
am 30. Juli 1868. Siehe W.
Liebknecht an Marx, 17.7.1868.
Schließen Heute
lese ich in der „Zukunft“: Natalie Reh,
Wilhelm Liebknecht.
Verlobte.
Darmstadt u. Leipzig. – Wissen Sie Näheres über die Dame? Man merkt der ganzen
Polemik Liebknechts seine völlige Unwissenheit betreff der öconomischen Basis
an. –
Haben Sie noch nichts weiter
über Erfolg u. Wirkung Karl Marx: Das Kapital. Bd. 1. Buch
1. Hamburg 1867. Siehe Erl. zu „1200 Seiten Manuscript“ in
Marx an J. Ph. Becker, zw. 9. u.
15.1.1866. (MEGA2
II/5).
Schließen ihres Buches gehört?
Es ist 11 Uhr Nachts. Den Brief muß ich noch zur Post bringen. Für heute adieu!
StetsIhr treuer
LKugelmann
Dr
Gertrud
und Franzisca
Kugelmann.
Schließen Meine Frau u.
Fränzchen grüßen herzl. Sie reisen in 8 Tagen
auf 4 Wochen nach Bonn. Gute Besserung!
Zeugenbeschreibung und Überlieferung
Dieser Brief wird hier erstmals veröffentlicht.
Zeugenbeschreibung
Der Brief besteht aus einem Bogen mittelstarkem, weißem Papier im Format 286 × 215 mm. Prägung: „Dr. L. Kglm.“ Alle vier Seiten hat Kugelmann vollständig beschrieben. Schreibmaterial: schwarze Tinte.
Von Kugelmanns Hand: Anstreichungen mit schwarzer Tinte auf der zweiten und vierten Seite.
Von unbekannter Hand: Nummerierung des Briefes bzw. der beschriebenen Seiten: „48a“ bis „48d“ (ausradiert).
Anmerkungen zum Brief
Kugelmann beantwortet Marx’ Brief vom 24. Juni 1868 (Marx an L. Kugelmann, 24.6.1868). Die Antwort von Marx erfolgt am 2. Juli 1868 (Marx an L. Kugelmann, 2.7.1868).
Zitiervorschlag
Louis Kugelmann an Karl Marx in London. Hannover, Freitag, 26. Juni 1868. In: Marx-Engels-Gesamtausgabe digital. Hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: http://megadigital.bbaw.de/briefe/detail.xql?id=M0000662. Abgerufen am 20.04.2024.