| Wladimir-Lederfabrik, St. Petersburg 20. Mai 1868.
Hochverehrter Freund,
Es freut mich
unendlich daß Siehe den überlieferten
Abschnitt des Briefes von
Marx
an J. Dietzgen,
9.5.1868
Schließen Ihr lieber Brief vom
9t Mai und
Ihr Beispiel mir die Erlaubniß gibt, Sie so nennen zu
dürfen. Man verehrt wohl Manchen in der Adresse. Sie aber
bitte ich um die Erlaubniß Ihnen sagen zu dürfen und es für
mehr als eine artige Redensart gelten zu lassen, daß ich das
Ideal eines eminenten Denkers, eines unerreichten Stylisten,
eines wahrhaftigen, furchtlosen Charakters und eines
thatkräftigen Mannes in Ihnen verehre.
Wie sollte nun das freundliche Entgegenkommen eines so hochgeschätzten Meisters nicht den Schüler erfreuen? Ich verdanke Ihnen das Verständniß für die geschichtliche Bewegung der Menschheit, ein Schatz, der mich über sehr viele Widerwärtigkeiten des Lebens und über alle Erbärmlichkeiten meiner Zeit und meiner Umgebung emporhebt. Noch mehr! Indem Sie mir einen Einblick in das allgemeine Wesen der bürgerlichen Oekonomie eröffneten, befähigten Sie mich gleichzeitig meinen Privat-Standpunkt innerhalb dieser Gesellschaft mit Bewusstsein zu besetzen. Diesem Bewusstsein verdanke ich zu einem großen Theile den guten Erfolg, dessen ich bisher mich in diesem unvermeidlichen bürgerlichen Leben rühmen durfte.
Ihren Vorschlag
Dietzgen verfasste eine Besprechung des „Kapital“ und schickte diese an Marx am 3.
Juli 1868 (Dietzgen
an Marx, 3.7.1868: „Mit
Gegenwärtigem übersende Ihnen meinen Versuch
...“). Siehe auch Marx
an Engels, 11.7.1868 und
Marx
an L. Kugelmann,
11.7.1868. Mit einem
nicht überlieferten Brief an Wilhelm Liebknecht,
geschrieben zwischen dem 11. und 17. Juli 1868
(siehe Liebknecht
an Marx, 17.7.1868),
übersandte er die Besprechung an Liebknecht, der
den Artikel veröffentlichte: Joseph Dietzgen: Das
Kapital. Kritik der politischen Oekonomie von Karl
Marx. Hamburg 1867. In: Demokratisches
Wochenblatt. Leipzig. Nr. 31, 34, 35 und 36, 1.
vom 22., 29. August und 5. September 1868.
Digitalisat des FES: Nr. 31, 34, 35, 36.
Schließen eine Empfehlung Ihres
letzten Werkes zu
verfassen, bin ich wohl in der Lage
anzunehmen. Meine Stellung ist durchaus independent und darf
ich nicht scheuen, mit meinem Namen zu unterzeichnen. Wohl
vermag Armuth zu demüthigen, doch bedürfte es viel davon,
bevor ich so demüthig werden könnte, mir die Freiheit der
Gedankenäußerung zu beschränken. „Rücksichtslosigkeit“ ist
ein Wort, das – entschuldigen Sie die romantische Wendung –
ich mir als Devise erwählte. Aus Ihren Schriften spricht
dieselbe in einer Art, welche ich von jeher bewunderte und
nacheiferte. Im Denken und bei wesentlichen Anlässen auch im Leben thue ich
mir genug darin. Aber im allgemeinen Verkehr besitze ich
zunächst das gerade Gegentheil, eine
| große
Geschmeidigkeit und Nachgiebigkeit des Charakters. Es ist
eine solche Eigenschaft eine Sache, welche, wie alle Dinge,
manichfaltig erscheint: bald
als Laster, bald als Tugend, bald als Mangel, bald als
Talent. So glaube ich das Talent zu besitzen, meine extreme,
rücksichtslose Denkungsweise bei Personen und Verhältnissen
insinuiren zu können, wo dergleichen sonst durchaus verpönt
und unzulässig ist. D. h. ich schmeichle mir zur
Popularisirung der von Ihnen zu Tage geförderten
wissenschaftlichen Schätze beitragen zu können. Mit dem
Versuch habe ich bereits begonnen.
Gleichzeitig mit
diesem sende ich Ihnen D. h.
als Drucksache.
Schließen unter
Kreuzband
Vermutlich ist die St. Petersburger Gesellschaft
der ausländischen Handwerker „Palme“ gemeint, dessen
Organ das „Palmblatt“ war.
Dietzgen
war ab 1866 Mitglied der
„Palme“. Zwischen 1866 und 1868
sind im „Palmblatt“ mehrere Artikel (u. a. Einige
Worte über das Wesen des Geldes; Die Lassalleschen
Ideen; Die Soziale Frage (Wirtschaftskrisen);
Arbeit und Kapital; Die Kunst und das Handwerk;
Die Wissenschaft und das Handwerk) von ihm
erschienen. (Siehe Huck: Joseph Dietzgen (1979). S.
47).
Schließen einige
kleine
Artikel von mir, welche von dem
Organ eines hiesigen
Handwerker-Vereins
aufgenommen sind. Letzterer ist von der
russischen Regierung unter die ehrwürdige Obhut der
evangelischen Pastores gestellt, und von dieser Diktatur so
bedrückt, daß er fortwährend nach Luft schnappt. So war es
mir hier nicht vergönnt, das zu sagen, was ich eigentlich
auf dem Herzen hatte. Die Matadores sind enragirte Troßleute
von Schulze-Delitzsch.
So schrieb ich denn in der Hoffnung allmählich die
widerstrebenden Antipathien durch die Macht der Wahrheit
soweit besiegen zu können; schließlich die Sache nakter und
unverhüllter darstellen zu dürfen. Auch habe ich mir noch
ein anderes Terrain erschlossen. Die „Gerber-Zeitung“ in Berlin, der ich öfter
Fach-Beiträge lieferte, hat mir versprochen einen Cyklus von
„Skizzen aus dem Gebiete der
politischen Oekonomie“ aufzunehmen. Einige
sind bereits geschrieben und in Händen der Redaktion. Ich
beabsichtige damit die Resultate Ihrer Forschungen dem
Verständniß der deutschen Gerber mundgerecht zu machen, und
am Schlusse, in einem besonderen Artikel auf Karl Marx:
Das Kapital. Bd. 1. Buch 1. Hamburg 1867.
Siehe Erl. zu „1200 Seiten Manuscript“ in Marx an J. Ph. Becker, zw. 9. u.
15.1.1866. (MEGA2
II/5).
Schließen Ihr Werk zu verweisen, dem der
Inhalt dieser Skizzen entnommen sei. Ich gebrauche die
Taktik dem Vorurtheil der Menschen scheinbar Konzession zu
machen, nur damit man mich näher heranlässt und also der
Angriff wirksamer wird. Jedoch fehlt es mir auch nicht an
Muth, wo es der Zweck erfordern kann, meine Ueberzeugung
aufs entschiedenste mit Wort und That und Namen zu
vertreten. Die Frage unserer herrschenden Klassen ist, not
to be, but to seem. Ich hasse dies
scheinheilige, hohle, windbeutelige Wesen aus dem Grunde
meiner Seele, mache ihm im Großen u. Kleinen, im Thun und
Denken Opposition. Doch habe ich deshalb die Liebe nicht
verloren, ich suche auch
am
Akord. Und gerade das denke ich, und Sie
werden beistimmen, ist das Beste unserer gemeinschaftlichen
| Anschauungsweise, daß sie lehrt, alles was da ist, als nothwendiges Glied des
Ganzen zu verstehen, daß sie uns versöhnt mit der einzelnen
Mangelhaftigkeit durch das Bewusstsein, das Vollkommene im
Ganzen zu besitzen. Das Wesen der Dinge besteht aus der
Summe ihrer Scheinbarkeiten, das Absolute ist aus Relativem
zusammengesetzt u.s.w.
Ich freue mich
Ihrer Erlaubniß, Ihnen von meinem philosophischen
Gedankenspänen mehr mittheilen zu
dürfen, und gedenke bald einen weiteren Dietzgen stellte seine
philosophischen Überlegungen in einem Aufsatz
zusammen und übersandte das Manuskript an Marx
(siehe Dietzgen
an Marx, 24.9.1868. Es
erschien später als: [Joseph Dietzgen:] Das Wesen der menschlichen
Kopfarbeit. Dargestellt von einem Handarbeiter.
Eine abermalige Kritik der reinen und praktischen
Vernunft. Hamburg 1869. Siehe Dietzgen
an Marx, 3.7., 24.9.,
Marx
an Engels, 4.10.1868,
Marx
an S. Meyer, 28.10., Engels
an Marx, 6.11.1868 und
Erl.
Schließen Gebrauch davon zu machen. In meinen freien Stunden
beschäftigt mich nunmehr die Darstellung, daß die Erkenntniß
des menschlichen Denkvermögens, die Erkenntniß, daß Denken
im allgemeinen darin besteht, aus sinnlich Gegebenem, aus
Besonderm das Allgemeine zu entwickeln – daß diese
Wissenschaft die Quelle der von der
spekulativen Philosophie solange erfolglos erstrebten
systematischen Weltanschauung enthält. Die Spekulation
unterscheidet sich von andern Wissenschaften, von der
Naturwissenschaft eben durch das Mißverständniß dieser
Thatsache, des Denkprozesses. Sie glaubte ohne besonderes
Material, ohne Sinnlichkeit, ohne Erscheinung Wahrheit,
Absolutes finden zu können. Die Naturwissenschaft sucht die
Wahrheit am Objekt, die spek. Philosophie in sich, im
Denkvermögen. Das Denkvermögen war das wirkliche, aber
unbewusste Objekt der Philosophie. Alle andern
Wissenschaften unterscheiden sich durch ihre Objekte,
die Philosophie durch ihre objektlose Methode. Sie hat diese Methode bis zu einem
Exzeß kultivirt, wo es offenbar wurde, daß das Organ womit alle Wissenschaften
gemeinschaftlich arbeiten, das heimliche Objekt dieser Methode war. Daraus
folgte das Resultat: irgend ein Objekt, Sinnlichkeit ist
Voraussetzung des Denkens, Erscheinung Voraussetzung der
Wahrheit, das Wesen einer Sache, das wahre Recht, das wahre
Gut, die wahre Schönheit, kann nur in der Erscheinung, nur
in seinem Gegensatz, nur im Besonderen wirklich sein. Der gesunde Menschenverstand
und die Naturwissenschaft haben diese Lehre immer praktizirt, aber nicht gewusst
und praktiziren deshalb nebenbei auch spekulativ. Der
Naturwissenschaft ergeht es, wie Liebig von den Bauern sagt:
Die
Kartoffel gerathen ihnen, aber sie
pflanzen nicht wissenschaftlich,
nicht mit Vorausbestimmung des
Erfolgs.
Entschuldigen Sie, daß ich so schwatzhaft bin. Wenn Sie erlauben, werde ich Ihnen bald ein kleines Manuscript zusenden, mit der Bitte mir Ihre Belehrungen darüber und Ausstellungen daran nicht vorzuenthalten. Ich reise in den nächsten | Tagen in Familien-Angelegenheiten nach meiner rheinischen Heimath. Villeicht sende ich schon von dort aus etwas an Sie ab. Nachrichten von Ihnen werden mich immer sehr erfreuen, doch wünsche ich ganz und gar nicht, daß Sie deshalb ihre Arbeiten unterbrechen, oder sich irgendwie Zwang anthun.
Zu hören, daß
Krankheit Sie von der Karl Marx: Das
Kapital. Bd. 1. Buch 1. Hamburg 1867. Siehe
Erl. zu „1200 Seiten Manuscript“ in Marx an J. Ph. Becker, zw. 9. u.
15.1.1866. (MEGA2 II/5).
Der geplante zweite Band des „Kapital“ sollte
ursprünglich Buch 2 und Buch 3 enthalten. Siehe
Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen
Oekonomie. Erster Band. Buch I. Vorwort (MEGA2 II/5. S.
14). Die Manuskripte zum zweiten und
dritten Buch des „Kapital“, an denen Marx bis zum
Ende seines Lebens weiterarbeitete, wurden erst
nach seinem Tod von Engels als Band 2 und Band 3
veröffentlicht. Ausführlicher dazu siehe hier (Exkurs zur
Fortsetzung des „Kapital“).
Schließen Vollendung
Ihres Werkes
vielfältig zurückhält, hat mich tief betrübt. Daß der Inhalt
diesem großmäuligen Carl
Heinzen unverständlich ist, liegt an der
geringen Kultur seines Gehirns. Das Schweigen der Journale
hat mich längst ennuyirt, aber die Köpfe der Menschen sind
nun einmal so mit Vorurtheilen vollgepfropft, daß Licht
ihnen nur in sehr winzigen homöopathischen Dosen beigebracht
werden kann. Was Sie geben ist zu stark für diese vernagelte
Welt. Sie werden um soweniger erwarten dürfen eine Ausnahme
zu machen von den bisherigen Heroen der Wissenschaft, als
Sie sich gerade die unzugänglichste Stelle zum Objekt
erwählt haben. Die Leute sind nie dummer, als wenn sie sich
in ihren pekuniären Interessen verletzt glauben. Man muß
Geduld mit ihnen haben, le jour esperé, le jour inévitable
viendra.
Sobald ich Siehe J.
Dietzgen
an Marx, 3.7.1868: „...
ich auf 4 Wochen von hier zu meinen Eltern nach
Siegburg, bei Köln a/Rh. verreist
war.“).
Schließen von meiner Reise zurück
bin, werde ich mich daran machen,
einen Siehe oben.
Schließen Artikel
abzufassen, welcher den Arbeitern das Studium Ihres
unschätzbaren Werkes ans Herz legen soll. Und sobald ich
dann mit meinem
„Denkvermögen“
zu Ende bin, will ich mehr dafür thun. Ein sehr warmes Herz
trage ich sowohl für die geistige Erkenntniß, wie für die
facktische Bewegung der
socialen Fragen. Dagegen mit starken Hoffnungen an das nahe
Ende der kapitalistischen Wirthschaft trage ich mich nicht.
Trotzdem glaube ich früher an das Faktum, als an die
allgemeine Erkenntniß. In unserm Jahrhundert und, fürchte
ich, wohl auch noch im nächsten wird der Instinkt mehr an
der Weltgeschichte fördern, als das Bewusstsein. Wir
arbeiten da an einer Sache, die langsamer wächst, langsamer
steigt, als wir persönlich fallen, absterben. Unterdessen
muß uns die Freude am Wachsthum genügen. – Die Arbeiter in
Genf scheinen wohl ihre Sache am besten zu verstehn? Als mir
vorigen Herbst zum erstenmale die „Vorboten“ zu Gesicht kamen,
habe ich mich ungemein gefreut über dieß Lebenszeichen.
Mit der Versicherung, daß ich wünsche, Sie möchten mir Gelegenheit geben, Ihnen meine Verehrung und Dankbarkeit bezeugen zu können
bleibe ichIhr ergebener
Joseph Dietzgen
Zeugenbeschreibung und Überlieferung
Zeugenbeschreibung
Der Brief besteht aus einem Bogen mittelstarkem, weißem Papier im Format 420 × 270 mm. Alle vier Seiten hat Dietzgen vollständig beschrieben. Schreibmaterial: schwarze Tinte.
Die Schreibweise wurde nicht berichtigt.
Drucke
Anmerkungen zum Brief
Dietzgen beantwortet einen nur in einem kurzen Auszug überlieferten Brief von Marx vom 9. Mai 1868 (Marx an J. Dietzgen, 9.5.1868); siehe „Ihr lieber Brief vom 9t Mai“.
Zitiervorschlag
Joseph Dietzgen an Karl Marx in London. Sankt Petersburg, Mittwoch, 20. Mai 1868. In: Marx-Engels-Gesamtausgabe digital. Hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: http://megadigital.bbaw.de/briefe/detail.xql?id=M0000641. Abgerufen am 19.04.2024.