| Bern den 27sten Aug. 1867
Bernerhof.
Lieber Marx,
Siehe S.
L. Borkheim an Marx, 5.8.1867 .
Schließen Von Paris habe ich Ihnen am 5ten d.M.
geschrieben. Hiermit
schicke ich Ihnen Siehe die Beilage (ZB).
Schließen Kopie meines heutigen Briefes an Becker, die Sie mir gefälligst
so schnell wie möglich hierher, nach oben bezeichnetem Gasthof
einsenden wollen; oder halt! besser ist es, Sie senden sie und
schreiben mir unter Kouvert an
Herrn Schabelitz
nahe dem Polytechnikum
Zürich.
Nun werde ich Ihnen einige Gedanken zuflüstern, wie sie mir als Grundlage für [Sigismund Ludwig Borkheim:] Ma Perle
Devant le Congrès de Genève. Par un Diplomate Prolétaire. Bruxelles 1867.
Siehe Borkheim
an Marx, 5.8.1867 „Was ich für Genf vorhabe ...“ und
Erl.
Schließen meine Pauke dienen sollen.
Einleitung:
Zur Aushauchung idyllischer Friedensseufzer, nehme ich an, ist man nicht zusammengekommen.
Bei reeller Thätigkeit darf man es verschmähen, die Agitation für „Frieden“ als Handhabe gegen irgend eine einzelne Regierung des westlichen und Mitteleuropas zu verwerthen.
Ernste Handlungsweise wird alle Regierungen für den status quo gegen möglichen „Frieden“ ins Feld führen.
Auf Verfolgungen der vereinigten Regierungen muß man gefaßt sein.
| Haupsatz
Bei der gleichen Kulturhöhe in West- und Mittel-Europa ist nicht zu begreifen, wie man sich für sogenannte „Grenzberichtigungen“ schlagen kann.
Hauptaugenmerk ist auf die ökonomischen Einrichtungen zu lenken. Wird jeder Mensch von Jugend auf in den Waffen geübt, so sind die stehenden Heere überflüssig. Der dadurch erzielte Arbeitsgewinn ist auf die Vermeidung von Übervölkerung, auf Vertheilung des Überflusses an Bevölkerung in unbevölkerte Gegenden der bekannten Erde zu verwenden.
Eine einfache Diskussion ökonomischer Nothwendigkeiten wird die assets bestimmen.
Es sind nur die „Besitzenden“ die solche Friedensgedanken zu verhöhnen, die Dummheit, besser Frechheit haben.
Allerdings ist nicht zu leugnen, daß durch eine Besprechung der allgemeinen Angelegenheiten in einem Rathe von Vertretern West- und Mitteleuropas, der Besitz, wie er jetzt besteht, in Gefahr geräth.
Wie einst die Anhänger des status quo in England auf das franz. Königthum,
| die des
status quo in Frankreich nach England, Preußen, Österreich, Rußland guckten, die
schweizerischen Sonderbündler auf die Die Heilige Allianz - im Jahre 1815 auf
Initative Kaiser Aleksandrs I und
Metternichs zustande gekommene
politische Vereinbarung, deren Erstunterzeichner Russland, Österreich und Preußen
waren (siehe auch MEGA2 I/16. S. 589/590).
Schließen heilige
Alliance, die reaktionären
Italiener auf Spanien, die ditto Deutschen auf Rußland, so erwarten nun die sämmtlichen
Dunkelmänner Europas ihr Heil von Rußland.
Rußland ist barbarisches Land. Man erhält sie leichter dadurch unter der Fuchtel, daß man ihnen stets die Hoffnung läßt auf die Ausplünderung des Westens und Südens.
Die Gemeint ist die Abschaffung der Leibeigenschaft
1861.
Schließen Sklavenemanzipation stellt nicht mit einem Male Rußland in dieselbe Kategorie der Kultur
mit West- und Mittel-Europa.
Die Eroberungen in Asien vergrößern nur die Anzahl der Soldaten gegen Europa.
Es kann Niemandem ernstlich einfallen, Rußland, wo es noch auf Generationen hinaus unbebautes Land für Hunderte Millionen giebt, von vornherein in den Bund der Vereinigten Europäischen Staaten aufzunehmen.
Es ist ein Werk der Menschlichkeit, die Russen zu zwingen, sich mit sich selbst zu
beschäftigen. Es werden ihnen
| die Reibungen auf philosophischem Gebiete wohler thun,
als Anspielung auf die von Marx und
Engels seit den Revolutionsjahren 1848/49 publizistisch bekämpfte Ideologie des
Panslawismus, nach der die Slawen und in ihrer prorussischen Spielart das zarische
Russland zur Erneuerung Europas berufen seien. Siehe auch Friedrich Engels:
Deutschland und das Slawentum. In: MEGA2 I/14. S. 280–285 und ders.:
Panslawismus. Ebenda. S. 789–795 sowie Hanno
Strauß: Von Engels’ „Panslawismus“ zu Marx’ „Geheimdiplomatie“. Eine Herleitung
politischer Ambitionen. In: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. N.F. 2012.
Hamburg 2014. S. 83–94.
Schließen der übrigen Welt die Einführung der einen orthodoxen Religion, die von vielen Advokaten Rußlands als einziges
Heilmittel für die übrige verfaulte Welt angepriesen wird. Diejenigen Russen, welche
es nicht wagen oder auch vielleicht nicht der Ansicht sind, daß man nothwendigerweise
erst dann glücklich, wenn die russischen Lämpchen überall glühen, behaupten, daß das
Heil nur von dem noch jungen Russenvolke – wo es paßt wird auch Slave im Allgemeinen
gesagt – kommen kann. Mit der einfachen Urbarmachung ihres eigenen
Landes – August von Haxthausen: Studien
über die innern Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen
Einrichtungen Rußlands. Theil 3. Berlin 1852. Siehe Borkheim
an Engels, 30.5.1867 „Haxthausen haben Sie sehr richtig
bezeichnet ...“ und
Erl.).
Schließen vide Haxthausen
– sollten sie sich jedenfalls erst selbst glücklich machen. Was das übrige Europa
Bemerkenswerthes geleistet, ist hauptsächlich geleistet worden seit der
Religionszersetzung u.s.w. u.s.w. ad infinitum (lat.) bis aufs
Unendliche
Schließen ad infinitum, wenns beliebt.
Es ergiebt sich hiernach von selbst, daß die Hauptfrage in Europa nur die russische ist, und es ist unmöglich, an eine Anbahnung stetig friedlicher Zustände zu denken ohne eine Gesammterklärung an Rußland daß das übrige Europa sich jeder weiteren Vorwärtsbewegung in Europa mit den Waffen widersetzen wird.
| Die russische Thätigkeit ist nur eine modernisirte Hunnen-Mongolen-Türkenwanderung. Sage man dem russischen Volke, daß, wenn sie ihre Regierung nicht veranlassen können Ruhe zu halten, das übrige Europa gezwungen sein wird, die Kreuzzüge ins Moderne zu übersetzen, sie zuvörderst durch eine Militairgrenze vom Baltischen Meere bis zum Schwarzen abzusperren.
Ist eine Regeneration der Türkei nöthig, so hat sie vom übrigen Europa aus zu geschehen – ohne Rußland.
Die Behauptung, daß ein noch vergrößertes Rußland uns zu gefallen, zerfallen müsse, ist reinweg dämlich.
Ja sogar dem weiteren Vordringen in Asien müßte sich Europa und Amerika zusammen widersetzen, denn es ist jedenfalls vorzuziehen, daß Asien europäo-amerikanisirt als daß es orthodox russifizirt wird.
Es drängt sich nun von selbst auf, daß man aufhören muß, die russische Sprache zu vernachlässigen. Es ist Kretinismus, einen Nachbar von Hundert Millionen zu haben, dessen Sprache man nicht lernen will. Mit der Popularisirung der russischen Sprache in Europa, erhält die sogenannte diplomatische | Weisheit einen einzigen derben Vernichtungs-Faustschlag.
Wenn ich nicht von Polen spreche, so geschieht es, weil ich durchaus den rein europäischen Standpunkt festhalten will.
Ich bin für die Losreißung Polens von Rußland, die aber ohne Übereinstimmung des übrigen Europas nicht möglich ist.
Ist es wohl anzunehmen, daß Amerika sich auf Seite Rußlands stellen wird. Das nehme ich nicht von den Yankees an und dann ist das stets anschwellende deutsche Element nicht zu vergessen.
Schluß
Meine Anträge.
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Hieraus, mit Anmerkungen von Ihnen und Engels wird es mir leicht
sein, eine lange oder eine kurze Pauke zu halten. – Nur bitte ich um
schnelle Einsendung! – Herzliche Grüße von mir und meiner Frau an Sie und die
liebe Frau und Jenny, Laura und Eleanor Marx.
Schließen Kinder.
B.
| Vorstehendes habe ich sehr eilig niedergeschrieben. Nach Durchlesung scheint es mir der Überlegung werth, ob eine in solchem Sinne gehaltene Pauke mir nicht Unannehmlichkeiten mit den französischen Behörden schaffen kann. Dadurch würde ich nicht nur mir persönlich schaden, sondern auch der Sache selbst, indem ich mir materielle Schwierigkeiten bereite, ihr zu nutzen. Im Nothfall kann ein Andrer die Rede ablesen und in der Diskussion kann ich ihm helfen.
B.Zeugenbeschreibung und Überlieferung
Dieser Brief wird hier erstmals veröffentlicht.
Zeugenbeschreibung
Der Brief besteht aus zwei Bogen dünnem, graublauem Papier im Format 492 × 272 mm. Borkheim hat die ersten sechs Seiten vollständig, die siebente zu drei Vierteln beschrieben, die achte Seite ist leer. Schreibmaterial: schwarze Tinte.
Der Brief hat eine Beilage (siehe „Anmerkungen zum Brief“).
Anmerkungen zum Brief
Wiedergabe der Beilage: Sigismund Ludwig Borkheim an Johann Philipp Becker, 27. August 1867. (IISG, Nachlass Johann Philipp Becker, Sign. D I 189).
Zitiervorschlag
Sigismund Ludwig Borkheim an Karl Marx in London. Bern, Dienstag, 27. August 1867. In: Marx-Engels-Gesamtausgabe digital. Hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: http://megadigital.bbaw.de/briefe/detail.xql?id=M0000331. Abgerufen am 19.04.2024.