| Herrn Dr. Karl Marx in London.

Hochverehrter Herr!

Gestatten Sie, ich bitte, Ihnen unbekannterweise meine Huldigung darzubringen, für die unschätzbaren Verdienste, welche Sie durch Ihre Forschungen sich sowohl um die Wissenschaft, wie speziell um die Arbeiterklasse erworben haben. In früher Jugend schon, als ich den überreichen Inhalt Ihrer Schriften mehr nur zu ahnen, als zu verstehn vermochte, wurde ich davon gefesselt und konnte nicht unterlassen zu lesen und wieder zu lesen, bis ich mir zu selbstgenügender Klarheit verholfen hatte. Die Begeisterung, welche nun das Studium  Karl Marx. Das Kapital. Bd. 1. Buch 1. Hamburg 1867.
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Ihres jüngst in Hamburg erschienenen Werkes
in mir erregt, reißt mich zu der vielleicht zudringlichen Unbescheidenheit hin, Ihnen meine Anerkennung, Verehrung und Dankbarkeit bezeugen zu wollen.

 Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Oekonomie. Erstes Heft. Berlin 1859. (MEGA2 II/2. S. 95–245.)
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Das in Berlin erschienene 1 Heft „Zur Kritik der politischen Oekonomie“
habe ich seiner Zeit mit vielem Fleiße studirt, und gestehe, daß niemals ein Buch, wie volouminös auch immer, mir soviel neue, positive Erkenntniß und Belehrung gebracht hat, wie dies kleine Heft. So habe ich denn die Fortsetzung mit vieler Ungeduld erwartet.

Sie sprechen es zum erstenmal in klarer, unwiderstehlicher, wissenschaftlicher Form aus, was von jetzt ab die bewusste Tendenz der geschichtlichen Entwicklung sein wird, nähmlich, die bisher blinde Naturmacht des gesellschaftlichen Produktionsprozesses dem menschlichen Bewusstsein zu unterordnen. Dieser Tendenz den Verstand gegeben, zu der Einsicht verholfen zu haben, daß unsere Produktion kopflos ist, | das ist Ihre unsterbliche That, hochverehrter Herr! Allgemeine Anerkennung dafür wird und muß die Zeit Ihnen bringen.

Zwischen den Zeilen Ihres Werkes lese ich, daß die Voraussetzung Ihrer gründlichen Oekonomie eine gründliche Philosophie ist. Da letztere mir viel Arbeit gemacht hat, kann ich den Wunsch nicht unterdrücken, Ihnen mit dem Bekenntniß, daß ich ein nur elementarisch geschulter Lohgerber bin, kurze Mittheilung von meinen wissenschaftlichen Bestrebungen zu machen.

Mein Gegenstand war, von früh an, eine systematische Weltanschauung. Ludwig Feuerbach hat mir den Weg dazu gezeigt. Vieles jedoch verdanke ich eigener Arbeit, so daß ich nun von mir sagen darf: die allgemeinen Dinge, die Natur des Allgemeinen, oder das „Wesen der Dinge“ ist mir wissenschaftlich klar. Was mir zu wissen übrig bleibt, sind die besondern Dinge. Da ich davon Einzelnes weiß, sage ich mir, daß Alles zu wissen für den Einzelnen zu viel ist.

Das Fundament aller Wissenschaft besteht in der Erkenntniß des Denkprozesses. Denken heißt aus dem sinnlich Gegebenen, aus dem Besondern das Allgemeine entwickeln. Die Erscheinung bildet das nothwendige Material des Denkens. Sie muß gegeben sein, bevor das Wesen, das Allgemeine oder Abstrakte zu finden ist. Das Verständniß dieser Thatsache enthält die Lösung aller philosophischen Räthsel. Die Frage z.B. nach Anfang u. Ende der Welt gehört nicht mehr in die Wissenschaft, wenn die Welt nur Voraussetzung, aber nicht Resultat des Denkens oder Wissens sein kann.

Das Wesen des Gedankes ist die Zahl. Alle logischen Unterschiede sind rein quantitativ. Alles Sein ist ein mehr oder minder beständiges Scheinen, aller Schein ein mehr oder minder beständiges Sein.

Alle Ursachen sind Wirkungen und umgekehrt. Innerhalb einer nacheinanderfolgenden Reihe von Erscheinungen heißt das allgemein Vorhergehende Ursache. Von 5 Vögeln fliegen z.B. in Folge eines Schusses 4 auf | und davon. Also heißt der Schuß Ursache, daß 4 fliegen und Unerschrockenheit Ursache, daß 1 sitzt. Fliegt aber umgekehrt 1 und 4 sitzen, so heißt nicht mehr der Schuß, sondern die Schreckbarkeit Ursache des Fliegens.  Joseph Dietzgen führt diese Beschreibung der Wärmewirkung in seinem Werk „Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit. Dargestellt von einem Handarbeiter. Eine abermalige Kritik der reinen und praktischen Vernunft“, Hamburg 1869“. S. 42f., 85, als eine Aussage Karl Koppes an. Der genaue, auch hier als Zitat gekennzeichnete Wortlaut, ließ sich bei Koppe nicht nachweisen. Möglichwerweise bezieht sich Dietzgen auf eine Aussage in einer der Ausgaben von: Karl Koppe: Anfangsgründe der Physik für den Unterricht in den oberen Klassen der Gymnasien [...]. Die 1. Auflage erschien in Essen 1847, die 9. Auflage 1867.
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Ein berühmter Physiker schreibt: „Die Wärme selbst vermögen wir nicht wahrzunehmen, wir schließen nur aus den Erscheinungen auf das Vorhandensein dieses Agens in der Natur.“
Ich umgekehrt schließe aus der Unwahrnehmbarkeit der „Wärme selbst“ auf das Nichtvorhandensein dieses Agens und verstehe die Erscheinungen oder Wirkungen der Wärme als Materiatur, woraus sich der Kopf den abstrakten Begriff Wärme bildet. Nennen wir ohne Verwechslung der Begriffe das Konkrete, Sinnliche Stoff, dann ist das Abstraktum desselben die Kraft. Beim Abwägen eines Waarenballens wird ohne Rücksicht auf den Stoff der Gewichtstücke die Schwerkraft pfundweise gehandhabt. Der fade (Well said!)  Eigentlich Charles Dickens: Hard times. Bei Dickens: „Now, what I want is, Facts. Teach these boys and girls nothing but Facts. Facts alone are wanted in life. Plant nothing else, and root out everything else. You can only form the minds of reasoning animals upon Facts: nothing else will ever be of any service to them.“ Büchner benutzte diese Stelle aus dem Roman von Dickens als Epigraph für das Vorwort zu seinem Werk „Kraft und Stoff“. Siehe Louis Büchner: Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien. In allgemein-verständlicher Darstellung. Frankfurt a. M. 1855. S. [VII].
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Büchner sagt: „Now what I want is—facts“
, but he does not know what he wants; der Wissenschaft geht es nicht sowohl um Thatsachen, als um die Erklärungen der Thatsachen, nicht um Stoffe, sondern um Kräfte. Wenn auch in der Wirklichkeit Kraft u. Stoff indentisch sind, ist ihre Unterscheidung, die Trennung des Besondern u. Allgemeinen doch mehr wie berechtigt. „Die Kraft lässt sich nicht sehen.“ Ei ja, das Sehen selbst und das was wir sehen, ist pure Kraft. Wir sehen wohl nicht die Dinge „selbst“, sondern nur ihre Wirkungen auf unsere Augen. Der Stoff ist unvergänglich, das heißt nur, überall u. zu allen Zeiten ist Stoff. Der Stoff erscheint, und die Erscheinungen sind stofflich. Der Unterschied zwischen Schein und Wesen ist nur quantitativ. Das Denkvermögen setzt zusammen, aus dem Vielen das Eine, aus Theilen das Ganze, aus dem Vergänglichen das Unvergängliche, aus den Accidenzen die Substanz.

Moral. Unter Moral versteht die Welt die Rücksichten welche der Mensch sich und dem Nebenmenschen zum Zweck des eigenen Heils zollt. Zahl u. Grad dieser Rücksichten bestimmen verschiedene Menschen und Menschenkreise verschieden. Den Kreis gegeben, vermag die Denkkraft nur das Allgemeine vom besondern Recht zu trennen. Was ist Zweck? Was ist Mittel? Dem abstrakten menschlichen Heil gegenüber sind alle Zwecke Mittel und insofern gilt unbedingt der Grundsatz: „der Zweck heiligt das Mittel.“

| Wenn nicht der Mangel an Gelehrsamkeit mich hinderte, würde ich über diese Themaes ein Werk schreiben, soviel Neues glaube ich davon zu wissen.

Entschuldigen Sie, verehrter Herr! daß ich mir anmaßte derart Ihre Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen. Ich vermeinte Sie durch den Beweiß erfreuen zu können, daß die Philosophie eines Handarbeiters klarer ist, wie durchschnittlich unsere heutige Professoren-Philosophie. Ihren Beifall würde ich höher schätzen, als wenn irgend eine Akademie mich wollte zu ihrem Mitgliede ernennen.

Ich schließe mit der nochmaligen Versicherung, daß ich den innigsten Antheil nehme an Ihren über unsere Zeit weit hinausreichenden Bestrebungen. Die sociale Entwicklung, der Kampf um die Herrschaft der Arbeiterklasse interessirt mich lebhafter wie die eigenen Privat-Angelegenheiten. Ich bedaure nur nicht thätiger dabei mitwirken zu können.

 Claude Joseph Rouget de Lisle: La Marseillaise.
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Allons enfants pour la patrie!

Joseph Dietzgen
Meister der Wladimir’schen Lederfabrik
Wasili Ostrow, St Petersburg.

Oktob. 24/ Eigentlich müßte es der 5. November sein.
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Novemb. 7. 1867.

Zeugenbeschreibung und Überlieferung

Zeugenbeschreibung

Der Brief besteht aus zwei Blättern mittelstarkem, weißem Papier im Format 206 × 272 mm. Alle vier Seiten hat Dietzgen vollständig beschrieben. Schreibmaterial: schwarze Tinte.

Von Marx’ Hand: alle Vermerke mit schwarzer Tinte: Auf der zweiten Seite: Die Passage „Das Fundament {bis} Denkprozesses“ angestrichen, in eckige Klammern gesetzt und am linken Seitenrand dazu „Bravo!“ notiert; neben der Passage „Alles Sein {bis} beständiges Sein“ am linken Seitenrand: „Schelling!“ geschrieben; auf der dritten Seite: Über den Worten „Der fade Büchner“ der Vermerk: „Well said!“; die Passage „‚Die Kraft lässt sich nicht sehen {bis} pure Kraft.“ ist mit einem Ausrufezeichen versehen.

Datierung in der Erstveröffentlichung: 7. November 1867.

Anmerkungen zum Brief

Zur Datierung: Dietzgen datierte den Brief mit 24. Oktober/7. November 1867. Der 24. Oktober nach dem julianischen Kalender entspricht eigentlich dem 5. November 1867 des gregorianischen Kalenders.

Marx legte den Brief Dietzgens seinem Brief an Louis Kugelmann vom 7. Dezember 1867 bei (siehe Marx an L. Kugelmann, 7.12.1867). Überliefert ist eine Kopie des Briefes von Dietzgen, angefertigt von Gertrud Kugelmann (IISG, Marx-Engels-Nachlass, Sign. C 343/C 102a).

 

Zitiervorschlag

Joseph Dietzgen an Karl Marx in London. Sankt Petersburg, Dienstag, 5. November 1867. In: Marx-Engels-Gesamtausgabe digital. Hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: http://megadigital.bbaw.de/briefe/detail.xql?id=M0000414. Abgerufen am 18.04.2024.